Walthari Wissenschaftsforum

Ausgewählte Fachbeiträge von 2003 bis 2012

1. Oktober 2012

Heis Demos – Heis Theos

Über einen Grundcode gelebter Humanität

Von Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

Der Konvertit Erik Peterson hat in seinem grundlegenden und dennoch viel zu wenig beachteten Werk ›Heis Theos‹ (ausführlich besprochen in diesem WALTHARI-Portal) die antike Akklamationsformel Heis Theos auch in einem politischen und rechtlichen Kontext gesehen. Gelebte Humanität ist auf Nähe, Transparenz und Zustimmung angewiesen, wofür die griechischen Polis-Strukturen und die Stadtkulturen in der Renaissance geradezu Idealfälle waren. Je anonymer und damit undurchschaubarer gesellschaftlich-politische Formationen organisiert sind, um so größer die Gefahr, daß Humanität nicht gelebt werden kann. Nähe und Transparenz rechnete Claude Lévy-Strauß zu den anthropologischen Konstanten. In den Kapiteln 17 bis 23 meiner Buchveröffentlichung ›Aktive Bürgergesellschaft in einem gebändigten Staat‹ (2007) habe ich grundweisende Umsetzungskonzepte dazu vorgestellt, ohne daß ich damals die Peterson-Veröffentlichung kannte.

Mit Ausnahme Luxemburgs, der Schweiz und anderer Kleinstaaten entsprechen die gegebenen politischen Strukturen nicht den anthropologischen Konstanten, im Gegenteil: Vor allem in der Europäischen Union herrscht die Tendenz zur großstaatlichen Überwölbung und damit der Bürgerentmündigung. Kaum einer der 500 Millionen EU-Bürger hat persönlichen Kontakt zu einem Brüssel-Beamten oder EU-Parlamentarier. Das Großsystem bleibt anonym, unübersichtlich, oktroianfällig, weil entfernt vom Bürgersouverän.

Die dramatische Lage zeigt sich erst, wenn die dritte anthropologische Konstante ins Spiel kommt: Heis Demos – Heis Theos…

16. September 2012

Bologna-Wendehälse

40. Folge der bologna-kritischen Artikelserie

Von Univ.-Prof. em. Dr. E. Dauenhauer

… Hätte ich die aktuellen Wendemanöver nicht längst erwartet, wäre ich bei der Kritik der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) an der Bologna-Reform, vorgetragen Ende August 2012 von HRK-Präsident Horst Hippler, aus allen Wolken gefallen. Zur Erinnerung: Während nur wenige Stimmen, darunter auch Kritiker in diesem Walthari-Portal, das ›Jahrhundertprojekt‹ von Anfang an als verfehlt zu kritisieren wagten, waren die HRK-Herrschaften, von Amts wegen Nutzer des neuen Systems, von dem Projekt über Jahre recht angetan. Erst spät äußerte man angesichts bedrückender Fakten (darunter auch studentische Proteste) leise Kritik.

Nun das Wendemanöver: Wichtige Ziele seien verfehlt worden, der Bachelor-Abschluß sei keine Berufsqualifikation, die Universität müsse mehr leisten als Ausbildung, nämlich Bildung. Horst Hippler weiter: »Das tut sie mit dem Bachelor nicht.« Für Bachelor-Absolventen der Physik gebe es beispielsweise kein Berufsbild – eine um zehn Jahre verspätete Einsicht, auf die ich damals in meiner berufswissenschaftlichen Veranstaltung hinwies.

Wer die HRK-Äußerungen der letzten zehn Jahre noch in Erinnerung hat (sie waren in diesem Walthari-Portal nachzulesen), reibt sich die Augen und fragt sich, warum die Präsidenten in all den Jahren die falsifizierenden Fakten im eigenen Haus nicht zur Kenntnis genommen haben. Hatte das Verhalten vielleicht etwas mit politischem Gefälligsein zu tun? Wie konnte es sein, daß Kritiker als ewig gestrige Stimmen verunglimpft wurden (nicht nur von Frau A. Schawan)? Plötzlich gesteht man ein, daß statt der verkündeten studentischen Mobilität die Regionalisierung zugenommen hat. Was hat die HRK-Präsidenten bewogen zu fordern, der Verschulung Einhalt zu gebieten? Hatten sie den fabrikmäßigen Lernbetrieb in den abgelaufenen zehn Jahren wirklich nicht bemerkt? Sind ihnen der insgeheime Boykott wohl der meisten Professoren und die Studienängste wirklich entgangen? Hat sie niemand über den Kobra-Effekt des ECTS-Systems (vgl. Forschung & Lehre [F & L], Heft 9/2012, S. 724 ff.) aufgeklärt?

Als der Deutsche Hochschulverband (DHV) im Jahre 2009 die Bologna-Reform für gescheitert erklärte, wurde er von der HRK, dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und von Vertretern der deutschen Wirtschaft mit dem Vorwurf »fahrlässiges Gerede« bedacht, das in die »Mottenkiste der Geschichte« gehöre (vgl. F & L, Heft 3/2009, S. 168). Damals hielt die HRK noch an den alten Bologna-Zielen fest. Auch die Kultusministerkonferenz (KMK) machte sich faktenverachtend noch stark dafür, die Akzeptanz des berufsqualifizierenden Bachelor-Abschusses zu steigern (vgl. F & L, Heft 11/2009, S. 796). Heute sei »die Frage längst nicht mehr«, leitartikelte die FAZ vom 4. September 2012, »ob die Bologna-Reform gescheitert ist, sondern…«

Man kann, unter dem Druck der Fakten, Wendehälse allerorten beobachten, nicht zuletzt in der Funktionärsschicht der Wirtschaft, die von Personalchefs der Unternehmen zurückgepfiffen wurden. Diese hatten einst die Bologna-Reform mit dem Hintersinn überschwänglich begrüßt, daß sie Heerscharen sechssemestriger Bachelorabsolventen mit geringeren Gehaltskosten werden abspeisen können. Stattdessen liefern ihnen die Universitäten nun »defizitäres Humankapital«, das sie kostspielig nachschulen müssen. Daher der Schwenk. Um es deutlich zu sagen: Für die Wirtschaft zählt nicht Humboldt, sondern die Kasse. Nach einer DIHK-Umfrage unter 2.115 Unternehmen vom Februar 2011 sanken daher die Erwartungen an die Bachelorabsolventen; für 60 Prozent der Unternehmen waren die neuen Studiengänge plötzlich verwirrend. Eine Studie der Max-Traeger-Stiftung forderte einen »radikalen Kurswechsel« bei der Bologna-Reform, weil bei Studierenden die psychischen Erkrankungen stark zugenommen hätten.

Um nicht das Gesicht zu verlieren, spricht man von »nachsteuern«, obschon sich erwiesen hat, daß die Reformanlage grundfalsch und ihre Ziele unerreichbar sind. Die Lage der Bologna-Retter ähnelt derjenigen der Euroretter: In beiden Fällen ist man in eine selbstgestellte Falle geraten, die auf eine Selbstüberschätzung der Politik gegenüber weitgehend autopoietisch angelegten Großsystemen (Universitäten und Währungen) zurückgeht. Massive Eingriffe von außen führen zwangsläufig zu schweren Systemstörungen und…

Nur Bundesministerin Annette Schawan bleibt erfahrungsresistent und unbelehrbar. Unverdrossen behauptet sie in einer Pressemitteilung vom 8. August 2012 eine »gute Akzeptanz auf dem Arbeitsmarkt« und »hohe Mobilität« und versteigt sich zu dem Jubel: »Die Hochschulreform ist eine europäische Erfolgsgeschichte.« So viel Realitätsverlust und Ignoranz waren selten. »Wer einmal erlebt hat, in welchem Ausmaß Politiker und Ministerialbeamte geradezu kindliche Vorstellungen vom Zustandekommen wissenschaftlicher Erkenntnisse haben«, schreibt der ehemalige Kanzler der Universität Leipzig (FAZ vom 16. Juni 2012,S. 8), »wundert sich natürlich nicht…«

Geopfert werden die Freiheit von Forschung und Lehre sowie Bildungsjahre ganzer Jahrgänge: Nach einer aktuellen Forsa-Umfrage fühlen sich 24 Prozent der Studierenden überfordert, erschöpft oder leiden unter Panikattacken; für 71 Prozent ist der Bologna-Prozeß ein großer Streßfaktor; andere Umfragen kommen zu noch höheren Schadensraten (F & L, Heft 7/2012, S. 533). Der Druck verleitet acht von zehn Studierenden dazu, mindestens einmal im Semester zu schummeln; jeder fünfte gibt ein Plagiat ab oder läßt seine Arbeit schreiben (Handelsblatt vom 21. August 2012, S. 26). Statt kritisch Denkende bilden die Universitäten verstärkt »konditionierte Studenten« aus (NZZ vom 20. November 2009, S. 8). »Hochschulen sind keine Fertigungsstraßen«, bekennt viel zu spät der Präsident der Universität Hamburg, Dieter Lenzen. Vor Jahren wären seine Kollegen über ihn hergefallen bei seiner Feststellung, »daß der Bachelor (BA) gar nicht als wissenschaftlicher Abschuß betrachtet wird« (F & L, Heft 5/2012, S. 356 ff.). Wie sehr die »Reform« die Lehre deformiert hat, kann man bei genügend schwarzem Humor in Heft 41 der ›Scheidewege‹ nachlesen (S. 332-350): »Wie sich Wissen industrialisiert« (Untertitel). »Klammheimlich haben sich die meisten Protagonisten… von der Bologna-Reform verabschiedet und sie auf ihre Weise boykottiert. Es wird Zeit das einzusehen«, schreibt Heike Schmoll in der FAZ vom 16. August 2012 (S. 1). Bevor sich alle klammheimlich ganz verabschieden, will ich an Anwürfe erinnern, die auch mir gegenüber… In einem später zusammenfassenden Rückblick werde ich darauf zu sprechen kommen.

Den Hauptverantwortlichen im Hintergrund habe ich noch gar nicht genannt: die OECD. Wie gebannt schauen deutsche Hochschul- und Bildungspolitiker auf deren Pariser Verlautbarungen und drehen auf Zuruf eilfertig die Reformräder: von Pisa über Bologna bis zur Rundum-Akademisierung auf Kosten des jahrhundertealten deutschen dualen Betriebsausbildungssystems. Kollege Jochen Krautz (Bonn) hat das trickreiche Vorgehen der anonymen Großagentur OECD beschrieben, die mit Brüssel, Bertelsmann u.a. wirkungsvoll zusammenspielt: »Der Bologna-Prozeß zeigt wesentliche Züge eines propagandistisch inspirierten Reformkunstwerks« (F & L, Heft 11/2012, S. 850). Wohlgemerkt: Reformkunstwerk. Universitäten und Schulen als Experimentierfelder ortsferner Reformingenieure, die nach einer Untersuchung von Kollegen Volker Ladenthin (Universität Bonn) seit vierzig Jahren dem deutschen Bildungssystem die Note »mangelhaft« erteilen und immer das gleiche alarmistische Rad drehen, weil man weiß, wie aufgeschreckt die Öffentlichkeit hierzulande auf Kritik von außen reagiert – ein historisch angelegtes Reflexmuster, auf dem man…
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20. Juli 2009, in: “Epochentexte”

Vergessene Kolonialverbrechen

Von Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

Bei seinem jüngsten Afrikabesuch hielt der amerikanische Präsident B. Obama eine Ansprache an jener Küstenstelle in Ghana, wo vom 17. bis ins 19. Jahrhundert afrikanische Sklaven verschifft wurden. Um die Welt ging ein gespenstisches Bild: Die Fort Cape Coast bildete eine menschenleere Kulisse, in die man vor der Kanonenreihe ein Rednerpult mit zwei Mikrofonen aufgestellt hatte, von wo aus der Sklaven-Nachfahre den »Ort tiefer Traurigkeit« optimistisch zu überfärben suchte. Es sei ein Fortschritt in der Geschichte, daß er, Obama, hierher als »freier Mensch« gekommen sei, um den Afrikanern Mut zu machen.

Das war doppelt euphemistisch gesprochen. Bis heute hat der verbrecherische Sklavenhandel keinen angemessenen Platz im kollektiven Gedächtnis der Menschheit gefunden, nicht einmal bei den Nationen, die den Sklavenhandel über Jahrhunderte gewinnbringend betrieben haben. Zwischen neun und sechzehn Millionen Schwarzafrikaner wurden von den Kolonialmächten (Großbritannien, Portugal, Spanien, Frankreich, Belgien und den Niederlanden) aus Afrika nach Süd-, Mittel- und Nordamerika verkauft, um in den dortigen Kolonien ausgebeutet zu werden. Die Todesfälle schon beim Transport waren hoch, noch höher bei den Plantagearbeiten (bezeichnenderweise gibt es dafür bei den sonst so statistikversessenen Kolonialmächten keine genaueren Zahlen – eine Schutzmaßnahme). Im 18. Jahrhundert entfielen 41 % des Sklavenhandels auf die Briten (so mancher Prunkbau auf der Insel wurde aus dem Sklavengeschäft bezahlt), 29 % auf die Portugiesen, 19 % auf die Franzosen, der Rest auf die anderen Kolonialstaaten. Übersehen wird meist, daß der Sklavenhandel auch innerafrikanisch blühte (so bis heute im Sudan und in Mauretanien) und daß vom 16. bis zum 19. Jahrhundert weitere über fünf Millionen Schwarze in den islamischen Raum verkauft wurden. Erst 1808 wurde der bis dahin legale Menschenhandel in den USA formal verboten. Lange zuvor hat Preußen die Leibeigenschaft, die mit dem Sklavendasein nicht zu vergleich war, abgeschafft. Sklavenhandel war in den deutschen Ländern ohnedies untersagt – ein historischer Kontrast, der in der globalen Erinnerungskultur überhaupt nicht wahrgenommen wird. Als in der Kurpfalz Samuel Pufendorf gerade einige Menschenrechte verkündet hatte (1665 in Heidelberg; vgl. dazu ›Aktive Bürgergesellschaft in einem gebändigten Staat‹, S. 90 ff.; Näheres unter Fenster Sachbücher, Unterfenster Sektion zeitkritische Schriften in diesem WALTHARI-Portal), gründete man in England die Sklavenfirmen ›Royal African Company‹ (1673), in Frankreich die ›Companie du Sénégal‹ (1672) und die ›Companie de Guinée‹ (1703), die für ihren Raum das Menschenhandels-Monopol besaßen. Nantes, Bordeaux, Liverpool und anders Städte verdanken ihren wirtschaftlichen Aufstieg dem Sklavengeschäft (mit Gewinnmarchen bis zu 50 %). Die Schiffsregister verzeichnen allein für Nantes rund 1.400 Sklavenfahren, rund die Hälfte des Handels überhaupt. Die Geschäfte im Schiffsbau und bei den Banken blühten. Kaum ein britischer oder französischer Aufklärungsdenker, bis heute hochgelobte Weltfiguren, nahm am Sklavenhandel Anstoß. 1792 verbot der dänische König den Sklavenhandel, es folgte 1794 Frankreich, aber gleich danach führte ihn Napoleon wieder ein. In England kam es erst 1848 zu einem wirksamen Verbot, in Brasilien 1851 (wirksam ab 1888) und in Spanien 1862! Das Verbot in den USA (1808) konnte erst nach dem Bürgerkrieg landesweit durchgesetzt werden (1888!). Der Aufstieg des angelsächsischen Kapitalismus ist ohne die Sklavenwirtschaft nicht denkbar. Die Behauptung Adam Smith’, »daß die Arbeit eines Sklaven am Ende die teuerste ist«, weil Sklaven mehr äßen, als sie erwirtschafteten und zur Arbeit getrieben werden müßten (in: ›Reichtum der Nationen‹ (3. Buch, 2. Kapitel), entsprach nicht der Wirklichkeit.

Der historische Skandal, auf der ewigen Rangliste der Großverbrechen gegen die Menschlichkeit an vierter Stelle, wird in den arabischen Ländern völlig tabuisiert (vgl. Chebel, M.: L’Esclavage en Terre d’Islam, Paris 2007), weitgehend auch in den ehemaligen westlichen Kolonialländern. Nach Chebel lesen sich die kanonischen Islamschriften »sklavenfreundlich«: nur Muslime dürfen niemals versklavt werden. Im Koran sei die Sklavenbefreiung »kein starkes Leitmotiv«. Die Schrift habe es Händlern und Feudalherren erlaubt, sich mit Sklaven zu umgeben. viele islamische Theologen fänden das heute noch nicht anstößig. Vor wenigen Jahren hat ein saudischer Islamgelehrter die Sklaverei öffentlich verteidigt. Daß die NGO ›SOS Esclave‹ bis heute gegen den Menschenhandel in Afrika kämpft, belegt, daß im afrikanischen, insbesondere arabischen Raum die Sklaverei immer noch anzutreffen ist, so in Mauretanien und im Sudan.

Im Westen hat man freilich wenig Anlaß, stolz auf die Geschichte der Sklavenbefreiung zu blicken. In den ehemaligen Kolonialländern gibt es keine Erinnerungskultur, die der Größe des Verbrechens angemessen wäre, im Gegenteil: Es fehlen Erinnerungsstätten, Gedenktage und eine Aufklärung in den öffentlichen Medien und Schulbüchern. Vor Jahren noch wurde in einem französischen Lehrmittel erklärt, der Kolonialismus habe den Entwicklungsländern das Glück westlicher Zivilisation beschert. Obama erzählt bei seinen Europabesuchen vorsichtshalber nicht die ganze Geschichte seiner Vorfahren. In Deutschland besuchte er Buchenwald, in anderen westlichen Ländern hingegen Glanzstätten, die kolonial erwirtschaftet wurden. Es gibt nicht nur Blutdiamanten.
© WALTHARI® – Aus: www.walthari.com
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verfassers.

8. Juni 2011

Voigt, Stefanie: Erhabenheit.

Über ein großes Gefühl und seine Opfer

Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011, 302 Seiten, 58,- Euro

Der von mir hochgeschätzte Verlag Königshausen & Neumann sollte das Buch zurückziehen und von der Autorin verlangen, daß sie ein fehlerfreies Manuskript abliefert. Schon die erste Textseite beginnt mit einer falschen Jahreszahl (Seite 5, FN 2: 1993 statt 1994), und was im Literaturverzeichnis durcheinandergeht, kann auch der gutmütigste Leser nicht hinnehmen (man vergleiche exemplarisch die Seite 294 ab A. Slade). Auf Seite 288 hat Nida-Rümelin seine eigenen ›Sämtliche Werke‹ herausgegeben (gemeint ist Nietzsche). Den Philosophen Gernot Böhme lernen wir als Wirtschaftswissenschaftler kennen (S. 6) u.a.m. Unmöglich kann sich die Autorin durch den angegebenen Literaturberg durchgearbeitet haben, es sei denn mittels einer flotten Rechnernavigation, die denn auch den Eindruck des Hingeworfenen vermittelt.
©Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer. Aus: www.walthari.com

19. Mai 2011

Platon: Der Staat

Deutsch von August Horneffer. Eingeleitet von Ulrike Kleemeier, 11., durchgesehene und aktualisierte Auflage

Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2011, 378 Seiten, 16,50 Euro

Wenn ein Buch in elfter Auflage erscheint, muß man von der Nachfrage auf besondere Qualitäten schließen. Nun ist Platons ›Politeia‹ seit 1578 europaweit bekannt, danach ungezählte Male nachübersetzt und kommentiert worden. Philologisch trainierte Philosophen bleibt es vorbehalten, zu beurteilen, ob aus der Horneffer-Übertrag ein neuer Gewinn gezogen werden kann. Hingegen kann sich der nicht-philosophisch gebildete Leser ein Bild machen mit der fast siebzigseitigen Einleitung von Ulrike Kleemeier. Hier wird akurat und stellengenau in Beziehung gesetzt:

I. Die Gerechtigkeit in der Diskussion
II. Gerechtigkeit und Glückseligkeit
III. Von der gesunden zur aufgeschwemmten Polis
IV. Erziehung des Wächterstandes
V. Fundierung der Herrschaft
VI. Analogie von Seele und Polis und die Kardinaltugenden
VII. Die innere und äußere Beschaffenheit der vollkommenen Polis
VIII. Die drei Gleichnisse: Sonne, Linie, Höhle.

In diesen Kommentaren wird das philosophische Schwergewicht aufgeschlüsselt. Man kann von den Deutungen leicht auf das Textoriginal zugreifen und sich selber ein Bild machen. Beispiel Krieg: Kleemeier hat in einer speziellen Veröffentlichung über den Krieg philosophisch räsoniert (2002). Sie kommentiert nun auf sechs Seiten die Binnenperspektive Platons. Im ›Staat‹ werden fünf Regeln aufgestellt, unter denen Regel 5 jede Kollektivschuld ausschließt:

(1) Hellenen dürfen keine Hellenden durch Krieg versklaven.
(2) Die toten Krieger der Gegenseite dürfen nicht beraubt werden, außer ihrer Waffen.
(3) Die Heiligtümer der Gegner dürfen nicht durch Waffen entweiht werden.
(4) Von Verwüstung und Brandschatzung der Häuser ist abzusehen.
(5) Im Kampf mit Hellenen dürfen immer nur die für den Konflikt Verantwortlichen als Feinde gelten, nicht aber alle Glieder eines Polis.
Platon führte die Freund-Feind-Differenz zur Erhaltung der Polis ein und nahm damit den Begriff des Politischen von Carl Schmitt vorweg (er wird leider nicht erwähnt). Trotz der exzellenten Kommentare und Stellenverweise hätte man sich ein Stichwortverzeichnis gewünscht, anhand dessen der Originaltext sich noch tiefer aufschlösse.

©Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate. Aus: www.walthari.com

28. April 2011

Hempel, H.-P.: Heideggers Holzwege.

Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011, 170 Seiten, 19,90 Euro

An Martin Heideggers Philosophie haben sich Heerscharen von Nach-Denkern die Zähne ausgebissen. Anlaß dazu liefert sein komplexes Werk und seine teilweise anstößige Biographie. Wer sich dem Philosophen nähern will, sieht sich in einem Meer aus Sekundärliteratur und einer Werkausgabe mit inzwischen mehreren dutzend Bänden ausgeliefert: Dankbar ist man daher für jede Handreichung, die auch Nichtphilosophen einen Weg bahnen. Wie aber ist das zu schaffen mit einem Buch, das auf jegliche Register verzichtet und kein Glossar der Hauptbegriffe anbietet? Wann begreifen Verlagslektoren, daß sie ein breites Publikum ausschließen, wenn sie Textzugänge über Register unterlassen? Hempel widmet sein gut lesbares Buch »meinen Freunden, den Philosophen« und unterschätzt damit das Interesse auch von Nichtphilosophen an Heidegger-Interpretationen. An diese muß er auch gedacht haben, wenn er gleich im 1. Kapitel fragt: ›Was ist das – Philosophie?‹ Für seine Fachkollegen dürfte das klar sein, ebenso vieles in den weiteren zwölf Kapiteln, die so anlockende Überschriften tragen wie: ›Was also ist Zeit?‹, ›Die Kontroverse: Heidegger – Adorno‹, ›Heideggers Weg aus der Gefahr‹ und ›Heidegger und Zen.‹ Unter ›Heideggers politischer Irrweg und sein Umweg‹ kann man lesen:

»Heute steht fest, daß Heidegger weder seinem Lehrer Husserl die Universität zu betreten untersagte, noch daß er das sogenannte ›Judenplakat‹ aushängen ließ, schon gar nicht die Bücherverbrennung veranlaßte, ganz im Gegenteil: daß er sie verboten hatte. Kein einziger Jude ist unter dem Rektorat Heideggers entlassen worden. – 1937 nennt Heidegger den Nationalsozialismus ohne Vorbehalte ein ›leeres Weltanschauungsgerede‹ und den Gedanken von ›Blut und Rasse‹ einen ›puren Blödsinn‹.«

Gegenüber Karl Jaspers hat er seine »Scham« ausgesprochen, »jemals hier (an seiner Universität) unmittelbar und mittelbar mitgewirkt zu haben«. Im allgemeinen Heidegger-Bild liest und hört man es ganz anders. Hempel dreht den Spieß der Anklage um: »Heidegger ist durch den Nationalsozialismus hindurchgegangen und nach meiner Überzeugung daher heute so viel eher legitimiert, über ihn zu schreiben, als die vielen, denen es bislang nicht gelungen ist, uns darzulegen, was es mit dem Nationalsozialismus eigentlich auf sich hatte. Leider ist der sogenannte Historikerstreit dieser Frage ausgewichen.« Das paßt zu Kants Höllenfahrt-Metapher, die als einschneidendes Erlebnis in aller Regel erst betroffen genug macht, um im altgriechischen Stil philosophieren zu können. Damit meint Hempel kein Reden über Philosophie, sondern ein Leben als Umkehr, als eine »neue Lebensweise, um Heilung und Besserung falschen Lebens« zu erreichen (S. 14 f.). Denken als »Exerzitien in der antiken Philosophie«, das würde man mit dem Autor entlang seiner dreizehn Kapitel mit mehr Gewinn durchspielen, würde er wenigstens die Zitate verorten. Keine einzige Quellenangabe im ganzen Buch! Wo z.B. Eugen Fink die Zeit »aus dem Wesen des Seins austreiben« wollte, hätte man schon gerne erfahren, um aus dem Kontext das Zitat zu verstehen. So liest man die Kapitel als fußnotenfreie Feuilletontexte. Das mag für die Zeit- und Zen-Ausführungen noch hingehen, ansonsten aber nicht. Dabei könnten Hempels Texte eine gute Einführung in die Philosophie Heideggers sein. Im Zeitkapitel vermißt man einen tieferen Blick auf die Quantentheorie und bei der ›Seyns‹-Erörterung eine Würdigung der Heidegger-Schelte von Kurt Anglet (›Die letzte Stunde‹, 2011).

©Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate. Aus: www.walthari.com

11. März 2011

Rüegg, W (Hrsg.): Geschichte der Universität in Europa.

Band IV: Vom zweiten Weltkrieg bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts

C. H. Beck Verlag, München 2010, 559 Seiten, 88,- Euro

Die Guttenberg-Affäre hat den deutschen Universitäten zum zweiten Mal innerhalb des letzten Jahrzehnts bis ins Mark getroffen. Der sog. Bologna-Prozeß bescherte den Hohen Schulen die erste Krise im beginnenden 20. Jahrhundert. Kritiker sprechen vom heruntergekommenen ›Wissenschaftsbetrieb‹ und deuten schon in der Wortwahl den fabrikähnlichen Durchlauf von Wissensvermittlung zu Lasten von Wissensgewinnung an. Die sensible Forschung wird mehr und mehr aus den Universitäten ausgelagert. In dieser doppelten Krisenlage ist es hilfreich, sich auf die Universitätsgeschichte zu besinnen. Denn dabei kann man lernen, wie die Alma mater Krisen überstanden hat und was ihr Wesen ausmacht.

Nach den Bänden I (Mittelalter), II (1500 – 1800: Von der Reformation zur Französischen Revolution) und III (1800 – 1945: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg) nunmehr Band IV. Dieser Abschlußband ist in fünfzehn Kapitel untergliedert, ergänzt um einen Epilog mit der Überschrift ›Von der Universität in Europa zu den Universitäten Europas‹. Die fünfzehn Kapitel sind überschrieben mit:

Erster Teil: Themen und Grundlagen
(1) Themen, Probleme, Erkenntnisse,
(2) Grundlagen
Zweiter Teil: Strukturen
(3) Die Hochschulträger
(4) Management
(5) Die Universitätslehrer
Dritter Teil: Die Studenten
(6) Der Zugang zur Universität
(7) Das Studium
(8) Studentische Bewegungen
(9) Der Berufsweg der Studierenden
Vierter Teil: Wissenschaft
(10) Sozialwissenschaften, Geschichte und Rechtswissenschaft
(11) Mathematische, exakte Wissenschaften
(12) Biologie
(13) Geologie
(14) Medizin
(15) Technik

Im ersten Kapitel zeigt Rüegg, ehemals Rektor an der Universität Frankfurt am Main, die drei großen Entwicklungslinien auf. Die Universitätsbewegung wurde geprägt von der dialogischen Universitätsreform des Humanismus, von der liberalen Universitätsreform Schleiermachers und Humboldts und von der ›modernen‹ unternehmerischen Universitätsreform. Letztere hat sich die »Sprengung des Elfenbeinturms« zum Ziel gesetzt, eine besonders folgenreiche ›Reform‹, die mit der 68er Bewegung begann und im Bologna-Prozeß weitergeführt wird. Der Politisierung folgt eine Ideologisierung und dieser aktuell vorherrschend Kommerzialisierung.

Wer das Krisengeschehen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und seine Fortsetzung (mit dem Bologna-Prozeß) bis heute im Auge behalten will, kann sich mit der Lektüre dreier Kapitel begnügen. Um die Universitäten zu demokratisieren, mußte die sachbegründete Vorrangstellung des Hauptträgers der Forschung und Lehre eingeebnet werden. Dafür sorg(t)en die Gremien- und Quotenpolitik sowie die bürokratische Entmachtung des Universitätslehrers. Den Weg dahin zeichnet Rüegg im 1. Kapitel in groben Zügen nach, er weist die Kampfparole gegen den elitären Universitätsgedanken (›Wissenschaft im Elfenbeinturm‹) zurück. Grundlagenforschung bedarf regelhaft der Abgeschiedenheit, wogegen Anwendungsforschung schon von der Sache her nicht weltfremd ist.

Externen Universitätsreformern ging und geht es nicht um die Stärkung des Universitären, sie verfolg(t)en meist externe Ziele: Erhöhung der Durchlaufgeschwindigkeit von Massen, ideologische Legitimierung usw. Mit der »unternehmerischen Hochschulreform« nach Bolognamaß erleben wir eine Fortschreibung der Universitätskrise, die Ende der 60er Jahre einsetzte und den Hohen Schulen ein fabrikmäßiges Kleid verpaßt hat. Damit einher gehen Provinzialisierung, Globalisierung und Amerikanisierung – Divergenzen also, wie sie der Universitätsgeschichte nicht fremd sind, aber noch nie zuvor so ausgeprägt waren. Exelenzprogramme teilen die Universitätslandschaft niveaumäßig auch in Deutschland auf, ganz nach amerikanischem Vorbild, das nicht nur ihre Wissenschaftssprache global durchsetzen konnte. Die EU will seit 1973 ein Gegengewicht setzen, was Rüegg zurecht als »mehr als eine Zukunftsvision« bezeichnet (S. 44). Die 760 europäischen Hochschulen aus vierzig Ländern sind sowenig in einen einheitlichen Bildungsrahmen zu zwingen wie die sehr unterschiedlichen Volkswirtschaften in einen einheitlichen Währungsraum.

Das Schicksal der Universitäten entscheidet sich nicht an bürokratischen Reformen, auch nicht an Methodenrafinessen, Evaluationen usw. Es hängt zentral von der Schlüsselfigur der achthundertjährigen Institution für Forschung und Lehre ab: dem Universitätsprofessor. Er ist der Erkenntnisberuf schlechthin, auf den nahezu alle Innovationen der Neuzeit direkt (über die Forschung) und indirekt (über die Lehre und Publikationen) zurückgeht. Daß seit rund fünfzig Jahren ausgerechnet diese Zentralfigur primärkultureller Bewegungen zurückgedrängt wird zugunsten partizipieller und quotierter Teilhaber (vgl. die Hochschulgesetze), rechnet zum Schrägbild der Moderne. Thomas Finkenstedt geht dem Phänomen nach, allerdings nicht ohne modische Verneigungen.

Enttäuscht darf man vom Schlußbeitrag sein, den der Schweizer Andris Barblan quasi in eigener Sache (er war in europäischen Wissenschaftsverwaltungen wie der CRF involviert) ausgestaltet. Er schwärmt geradezu für ein europäisches Hochschulmodell mit dem Ziel einer »Art Intelligenz-Euro« (S. 5050) und verheddert sich in widersprüchliche Visionen. Die weitgehend globalisierenden Hohen Schulen in den Dienst der europäischen Integration zu stellen und intellektuelle europäische Wettbewerbsfähigkeit zu initiieren, verrät Plangläubigkeit und Realitätsverlust. Sein Schweizer Landsmann Rüegg sieht es nüchterner (vgl. oben). Bei einer Neuauflage sollte man Barblan einen Co-Autor beigeben und das Orts- und Personenregister komplettieren. Im Verzeichnis der Universitätsgründungen wäre auf. S. 511 neben Koblenz-Landau ›Erziehungswissenschaftliche Hochschule‹ zu ergänzen. Ansonsten ist der ›Rüegg‹ mit seinen fünfzehn Hauptkaptiteln ein akademischer Klassiker.
©Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate. Aus: www.walthari.com

26. Oktober 2009

Zur Bilanz der Bologna-Reform (Phase I)

Teil 35 der Artikelserie*, von Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

Die Bundesbildungsministerin hat Phase II der Bologna-Reform ausgerufen, obschon sie am sog. Runden Tisch (Teilnehmer: Vertreter der KMK und der HRK sowie des DHV und von Studierenden) einschneidende Korrekturen hat eingestehen müssen. Phase II wird also gestartet, ohne daß die Ergebnisse der Phase I empirisch sauber aufgearbeitet und die Korrekturen angebracht worden sind – ein Reformmuster, das den Keim des Scheiterns in sich trägt.

Im Jahre 1998 nahm ich als Vertreter meiner Universität (in Landau) an einer regionalen Hochschulkonferenz teil, auf der die Vertreterin des Mainzer Wissenschaftsministeriums im kleinen Kreis preisgab, was ihr Chef hausintern geäußert hatte: Es stehe eine Hochschulreform bevor, die keinen Stein auf dem anderen lasse. In wenigen Jahren werde man die alte Universität nicht mehr wiedererkennen, weil Lehre und Abschlüsse nach angelsächsischem Muster durchrationalisiert würden, um die Studienzeiten zu verkürzen und die Beschäftigungsfähigkeit der Studierenden zu erhöhen.
Die anwesenden Kollegen (auch aus dem Saarland) belächelten das Vorhaben insgeheim nach dem Motto: Wir haben schon viele Reformen erlebt, aber noch keine richtig mitgemacht. Der Kollege von der Universität Kaiserslautern hielt es für undenkbar, daß der weltweit angesehene deutsche Dipl.-Ing.-Abschluß durch den fachunspezifischen Master ersetzt werden könnte. Nicht einmal dann, als während der Diskussion der Eindruck aufkam, an den Universitäten herrsche ein Schlendrian, nahm man die Ankündigung ernst. Mir fielen dabei die Erfahrungsberichte ein, die ich bei meinem Managertraining in einem schwedisch-schweizerisch-deutschen Konzern zu hören bekam. Die Holdingspitze hatte einen totalen Umbau der Weltfirma angeordnet und das bisher gewinnstarke Unternehmen binnen weniger Jahre in die Nähe des Konkurses gebracht. Aus meinen personalwirtschaftlichen Vorlesungen kannte ich die einschlägige Datenlage: Drei von vier Großreformen scheitern, weil die ›gelebte Grammatik‹ unterschätzt wird. Zwei von drei Großübernahmen werden aus dem gleichen Grunde revidiert (zwei Beispiele unter vielen: Mercedes–Crysler; Allianz–Dresdner Bank). Da sich das Bologna-Reform-Muster ausdrücklich an betriebswirtschaftliche Vorbilder anlehnt, waren mir die Risiken der Reform sofort klar, zumal die gewachsene ›Grammatik‹ einer Universität mit derjenigen eines Wirtschaftsunternehmens nicht zu vergleichen ist. Ich begann in diesem WALTHARI-Portal mit einer kritischen Artikelserie, um rechtzeitig vor den Folgen zu warnen und die Kollegen zum Widerstand zu animieren. Noch im Jahre 2003, als sich die Risiken bereits überdeutlich abzeichneten, regte sich nichts, obschon dieses Portal regelmäßig von Universitäten im In- und Ausland besucht wird. Mit Hörischs Hilferuf im Jahre 2006 »Rettet die Alma mater!« (rezensiert im Fenster Wissenschaftsforum), wachte man endlich auf. Doch es war zu spät, der Bologna-Zug hatte volle Fahrt aufgenommen. Die Rechnung der Großreformer war aufgegangen: Vollendete Tatsachen schaffen, bevor die Betroffenen begriffen haben, was auf sie zukommt. Feiges Taktieren erleichterte das unsägliche Reformgeschäft.

Zu Beginn des Wintersemesters 2009/2010 begrüßte die Universität in Landau ihre Studienanfänger u.a. mit dem Hinweis, die Universitätslandschaft sei im Umbruch »wie historisch zu keiner Zeit vorher«. Einerseits führten, so las es sich in einem Zeitungsbericht, die revolutionären Veränderungen zu ›klaren (!) Strukturen und Planvorgaben‹ (!), andererseits (im Wortlaut der Zeitung) »hätten (sie) aber auch eine starke Verdichtung, in gewisser Weise  (!) auch Verschulung zur Folge, so daß über kurz oder lang mit einer Reform der Reform« zu rechnen sei.

Mir verschlug es die Sprache, als ich diesen Zeitungsbericht las. Hat man wirklich zehn Jahre gebraucht, um zu erkennen und öffentlich einzugestehen: Lehre und Studium wurden so verschult, daß eine Reform der Reform unvermeidlich ist. Und: Warum dieser Rückwärtssaldo (es ist wirklich der buchhalterische Saldo gemeint), wenn die Reform doch zu klaren Strukturen geführt haben soll? Verschulung nur in gewisser Weise? Trifft dieser Weichton wirklich die Lage in der Lehre und beim Studium? Wie verträgt sich Verschulung mit der grundgesetzlich garantierten Freiheit von Forschung und Lehre? Eine kleine (»gewisse«) Verplanung am historischen Ort des freien Geistes gibt es so wenig wie eine kleine Schwangerschaft. Darf man hoffnungsvolle Erstsemester im Unklaren darüber lassen, was sie in einer »ruinierten Institution« (so in der Veröffentlichung von U. Haß und N. Müller-Schöll, 2009) wie die Bologna-Universität erwartet, nämlich vertaktete Ausbildungsgänge statt Bildung und kritische Denkübungen, wobei das Ausbildungssystem keineswegs mit dem Beschäftigungssystem so anschlüssig ist, wie behauptet? Im »Bologna-Schwarzbuch« des Deutschen Hochschulverbandes (erschienen 2009) ist nachreichend zu lesen, was in dieser Artikelserie seit Jahren festegestellt wird: Die Reform ist gescheitert. Als eine von oben befohlene Großreform teilt sie das Schicksal ihrer zahlreichen Konkursschwestern.

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* Teil 1 dieser Artikelserie erschien am Beginn des Bologna-Prozesses und vertrat die Ausgangsthese: Die Bologna-Reform wird allein schon deswegen scheitern, weil sie die Systemkomplexität an den Universitäten unterschätzt. Radikale Traditionsbrüche und Verwechslung von Bildung mit Schulung sind weitere Gründe.

18. Juni 2009

Im nachstehenden Artikel habe ich unter den Ziffern 6 und 7 eine Protestwelle an den Universitäten vorausgesagt, die, „rascher als man glaubt“, eingetreten ist.

15. November 2008

Die Universität auf dem Weg zur gehobenen Berufsschule?

Teil 31 der Rundschau

Von Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

Der Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung, Helmut Schwarz, warf in seinem Festvortrag am 10. März 2008 die Frage auf, »ob viele unserer Universitäten heute vielleicht nicht zu oft eine lose Kollektion von teuren Berufsschulen geworden sind, statt einer brodelnden Ideenküche zu gleichen«. Zu fragen sei weiterhin, »ob sie – die Universitäten – durch die erzwungene oder auch freiwillig akzeptierte Adaption eines kafkaesken, überbordenden Bürokratismus nicht selber zu einer Behörde mutiert sind, ferner, ob das ausufernde Kommissionswesen, das immer noch übertriebene Schielen auf wie das Streben nach Egalität oder auch der überhastete Umbau von Universitäten in Produktionsstätten, deren Ware ihre Absolventen und Ziel hohe Durchsatzzahlen sind – ob diese und andere strukturelle Veränderungen der zentralen Aufgabe der Universität, primär Ort der Wissenschaft zu sein, aus dem ganz simplen Grund deshalb im Wege stehen, weil Wissenschaft ihrem Wesen nach nicht konservativ, sondern revolutionär ist – und Forscher sich nicht gängeln lassen möchten« (›Forschung & Lehre‹, Heft 4/2008, S. 221). Ist das nur zugespitzt formuliert und aus der Lust, Erfolge schlechtzureden, entsprungen, wie es die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz, Margret Wintermantel, empört formuliert hat? Sie stellte die Gegenfrage: »Ist es nicht absurd, dass 380 Hochschulen im Lande die Lehre in 11.000 Studiengängen für zwei Millionen Studierende seit vielen Jahren stetig zum Besseren entwickeln…, und niemand scheint stolz darauf zu sein?« (FAZ, Nr. 207/2008, S. 10).

Abgesehen davon, daß Frau Wintermantel offensichtlich nicht bemerkt hat, daß die Zahl 11.000 ein universitäres Absurditätsmerkmal, ein veritables Malussignal ist, scheint sie auch nicht zu bemerkt zu haben, daß die kritischen Stimmen inzwischen zum lauten Chor angeschwollen sind. Eine Entwicklung »stetig zum Besseren«? Darüber schüttelt nicht nur der Philosoph Julian Nida-Rümelin den Kopf (»Studiengänge in zeitlich zusammengepreßter und verschulter Form« usw.). Der Erfolgsbehauptung stehen auch Fakten entgegen, die den Hochschulverband, die Vertretung der Professoren, zu einer Stellungnahme veranlaßte, deren Leitsatz lautet: Die Bologna-Reform ist gescheitert. Die Gründe: weniger statt mehr Mobilität, keine Verringerung der Studienabbrecher, extreme Verschulung u.a.m. – hehre Versprechungen, mit denen die Reformer (KMK & Co.) mit zynischer Traditionsverachtung ihr »Jahrhundertwerk« begründet hatten. »Es ist verantwortungslos, die vielfältigen Probleme, die durch die Umstellung auf Bachelor- und Master-Studiengänge entstanden sind, zu verharmlosen und als ›Kinderkrankheiten‹ zu deklarieren«, erklärte der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Professor Dr. Bernhard Kempen. »Der Bologna-Prozess in Deutschland ist nur noch zu retten, wenn massiv gegengesteuert wird. Mit einem bloßen Nachsteuern ist es nicht getan.«

Gescheitert ist nicht allein eine angelsächsische Kopie, deren Original schon fragwürdig genug ist (vgl. die vielen Erfahrungsberichte, so den von Trolier, K.: ›Der Gleichschritt der Kohorte paßt zur Bildung nicht‹, 2008). Nachwirkender als der Traditionsbruch sind die Kollateralschäden. »Denn an den Universitäten wächst eine zynische Generation heran, die selbst nicht mehr an das System glaubt«, notiert Heike Schmoll (FAZ, Nr. 147/2008, S. 1). Nur noch jeder sechste Stipendiat entscheidet sich für eine akademische Laufbahn; im Jahre 2007 war es noch jeder fünfte (befragt wurden 3.000 Stipendiaten aller Fachrichtungen zu ihren Berufswünschen). Das hat Auswirkungen auf die Qualität und Quantität künftiger Professoren. Ist es auf selektive Wahrnehmung zurückzuführen, wenn sich der Eindruck verstärkt, daß die Zahl der frustrierten Professoren mit forschreitender Bolognalisierung drastisch gestiegen ist? Wie wirkt sich dieser Frust auf das akademische Lernklima aus? Warum haben sich nach einem Bericht von H.-J. Gehrke (Althistoriker in Freiburg/Br.) bekannte europäische Universitäten jüngst erst »zusammengefunden, um mit einem fundamentalen (!) Neuansatz und in Anknüpfung an die klassische Universitätsidee gegenzusteuern«?

Die Suche nach den Schuldigen ist bereits voll im Gange (vgl. u.a. das Symposion in Cadenabbia im Juni 2008). Dabei sollte man zwischen extern und intern Verantwortlichen unterscheiden, um neben der Unbedarftheit von Hochschulpolitikern (als Zugreifer von außen) zwei weitere Hauptursachen der Bolognawirren nicht zu übersehen: die professorale Taktiererei, wenn nicht gar Duckmäuserei und die studentische Zahmheit. Die Reformgewalt von außen ging nicht allein von der Exekutive aus, alle deutschen Parlamente haben so frohgemut wie folgenblind dem Bologna-Abenteuer zugestimmt. Solche Fehlgriffe ist man auf dem politischen Feld freilich gewohnt, nicht jedoch, daß Universitätslehrer ihrer Studentenschaft vorleben, wie man dem Niedergang der Hohen Schulen tatenlos zuschaut. »Wo bleibt der Protest der Betroffenen?«, empört sich Kollege Horst Haider Munske aus Erlangen. Und der weithin berühmte Karl-Heinz Bohrer spricht gar von der »momentanen Sowjetisierung der deutschen Hochschulen« und wirft den Professoren Feigheit vor, weil sie ihre Berufspflicht zum öffentlichen Bekennen (Professor leitet sich vom lat. profiteor ab: ich bekenne offen) nicht ernst nähmen. Die Proteststimmen sind mittlerweile Legion, kommen aber um Jahre zu spät (vgl. Beiträge in diesem WALTHARI-Portal seit 2001 sowie die Buchveröffentlichungen ›Das veruntreute Land. Wohin driftet Deutschland?‹, 1998, und ›Die Universität als Lebensform und Reformopfer‹, 2002; Näheres unter www.walthari.com, Fenster Sachbücher, Sektion zeitkritische Schriften bzw. Sektion Wissenschafts- und Universitätspolitik).

Schlimmer noch als die sichtbaren sind die vorläufig unsichtbaren Reformschäden. Universitäten sollen ihrer Idee nach Orte des freien Geistes und der Bildung sein. Welchen Eindruck hinterlassen taktierende akademische Lehrer bei ihren Studierenden? Wie steht es um den Zustand der Professorenschaft, wenn die Rektorin einer norddeutschen Universität, wie die FAZ zu berichten weiß, Folgendes folgenlos von sich geben kann: »Pindar? Kenne ich nicht. Ich kenne nur Peanuts«? Pindar als Peanut, von der Universitätsspitze her in die ebenso betriebsamen wie bildungsfernen Bolognaränge gesagt – ein Fanal von ausleuchtender Wirkung. Es knirscht vernehmbar im Universitätsgebälk – wie vor einem Erdbeben. Wer das für übertrieben hält, stellt sich taub und blind gegenüber den Warnrufen. Man lese u.a. dazu in ›Forschung & Lehre‹, Heft 5/2008, den Beitrag ›Neues aus der kulturfreien Zone‹. Profunder noch Martin Seels zweite Universitätsanalyse in der ›Neuen Rundschau‹, Heft 2/2008. Die trübe Lage nur auf die Unterfinanzierung zurückzuführen, wie das gerade der Wissenschaftsrat getan hat (er ist an Bologna nicht unbeteiligt), lenkt von der strukturellen Fehlkonzeption ab. ›Deutschland in der Falle der Exzellenzrhetorik‹, wettert kein geringer als Hubert Markl. »Im kleinen Kreis lamentieren und nach außen fast jeden Unsinn mitmachen«, das ist nach Martin Seel die Arbeitsdevise im Bolognabetrieb (a.a.O., S. 126), der zu »planwirtschaftlicher Leninisierung« wissenschaftlicher Institutionen führe (S. 136).

Und die Studierenden? So demonstrationsfreudig sie bei weit geringeren Anlässen sind, so anpasserisch verhalten sie sich in ihrem Studium, dessen Signatur die Verschulung geworden ist. »Eine Welle von Kontrollen rollt durch die Hochschulen, an denen einst der freie Geist der Wissenschaften wehte – so interpretieren Kritiker die inzwischen an vielen Universitäten gängige Praxis. Mancherorts müsse man für den Strich auf der Anwesenheitsliste sogar den Personalausweis vorlegen. So habe die Bologna-Reform mit ihren verkürzten Bachelor- und Master-Studiengängen nicht nur die Inhalte des Studiums verschult und die Wahlfreiheit der Studenten beschnitten. Auch in vielen praktischen Details sei vom freien Studentenleben nicht mehr viel übrig«, notiert Insa Schiffmann in der FAZ Nr. 262/2008, S. C 6. Wie muß es um die Studentenschaft bestellt sein, wenn sie sich protestlos einem solchen engen Kontrollsystem unterwirft? Auch hier sollte man nicht die Augen vor den Fakten verschließen: Nach aller (Ganzschrift-)Klausur- und Prüfungserfahrung ist ein rundes Drittel nicht studienreif. Um sich durchzumogeln, googelt man bei Seminar- und Hausarbeiten so ungeniert auf einem Plagiatniveau, daß das Wissenschaftsministerium von Baden-Württemberg eine Änderung des Hochschulrechts für erforderlich hält: Schon ein einziges Plagiat soll künftig vom weiteren Studium ausschließen. Welches Licht wirft es auf das Studierniveau, wenn schätzungsweise jeder zweite Studierende Textbausteine ohne Quellenangabe verwendet? Skandalös ist nicht allein das mental-kriminelle Ausmaß, sondern mehr noch der Rückschluß: Viele Studierende trauen sich universitäre Eigenleistungen offenbar nur noch begrenzt zu. Wird man bald einen Beauftragten zur Plagiatbekämpfung ernennen müssen, dem gegenüber jeder Studierende eine Ehren- oder eidesstattliche Erklärung abzugeben hat? Wie tief muß der geistige Wasserspiegel in Zeiten des Bologna-Geschäftsmodells noch sinken, bis die absurde Kundendienst-Mentalität (die Studierenden seien da abzuholen, wo sie bildungsdefizitär nun mal stehen: abholen und dann durch punktgesteuerte Lerngänge schleusen) obsolet wird?

»Die deutschen Universitäten waren noch vor 70 Jahren die besten der Welt. Der Gedanke, daran nicht anknüpfen zu können, erscheint mir deprimierend.« Das beklagte der Präsident der US-Universität Yale (HB Nr. 93/06, S. 2). Seit ihrer Gründung (in Prag am 7. April 1348) war die deutsche Universität auch ein Ort des internen Streits. Christian Thomasius legte sich im Jahre 1688 mit seinem Kollegen Ulrich Huber an, weil dieser mehr der »Aufgeblasenheit« und dem »großen Prahlen« statt der Wissenschaft zuneige (in: Thomasius, Chr.: ›Einleitung Zur Hoff-Philosophie‹, Berlin 1712, Neuausgabe 1994). Die alten Figuren des »affigen Professors« und des »gelehrten Affen« (Alexander Kos?nina) dienten der Unterhaltung und internen Auflockerung; sie haben dem hohen geistigen Niveau nichts anhaben können. Selbst die schrulligsten Professoren von einst waren immerhin noch mutig und selbstbewußt gegenüber externen Eingriffen. Wo ist er geblieben, der Mut des Professors in Zeiten der »Sowjetisierung der deutschen Hochschulen« (vgl. oben)? Wer so fragt, muß sich zurecht selber befragen lassen. Dazu verweise ich u.a. auf meine drei Erfahrungsberichte (Teil 3: ›Dreißig Jahre Landauer Lehrstuhl‹, 2001, Näheres unter www.walthari.com, Fenster Sachbücher/Sektion Wissenschafts- und Universitätspolitik),
© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer. Aus:www.walthari.com

12. August 2009

Elektronische Bürgernetze weisen die Parteien- und Medienherrschaft in ihre Schranken

Die Volksabstimmung in Frankreich (Ablehnung des EU-Verfassungsvertrages) war nicht allein für die politische Elite ein Schock; noch dramatischer traf es die Medien, die ihre katastrophale Niederlage allerdings besser zu verbergen wußten. Was war passiert? Die Medien plädierten fast rundum für die Annahme des EU-Machwerks (und es ist ein Machwerk: über 400 Seiten ›Verfassung‹!), und zwar nicht nur mit Argumenten, sondern auch mit miesen Tricks und teilweise instrumentalisiert durch die politische Klasse (bei Sendemedien). Einer der Tricks: eine Gefahrenstimmung durch bestellte Meinungsumfragen in dichter Folge anheizen. Fast alle Starkommentatoren wurde zur Unterstützung in die Meinungsschlacht geschickt – und nach der Abstimmung von Bürgern böse beschimpft. Wußte man bisher schon vom tiefen Graben zwischen dem Volk und der politischen Klasse, so offenbarte sich nunmehr auch eine Kluft zwischen den Medien und ihren Nutzern. In Frankreich ist plebizitär an den Tag gekommen, was in Deutschland ebenfalls schon lange vermutet wird: Die Medien spiegeln die herrschende Volksmeinung längst nicht mehr wider, weil die sog. vierte Gewalt sich eher volkspädagogisch und ideologisch statt kritisch-aufklärerisch betätigt, d.h. es häufig versäumt, Informationen so aufzubereiten, daß sich der Nutzer selber eine Meinung bilden kann. Statt dessen werden dem Volk vorgestanzte Meinungen übergestülpt.

Doch diese Entwicklung läuft nach und nach ins Leere, weil sich eine zweite Öffentlichkeit gebildet hat: im Internet, als elektronische Bürgernetze. Zum erstenmal in der Postmoderne hat in Frankreich ein medial freies Bürgerforum die Vormacht der etablierten Medien gebrochen und nicht allein der politischen Elite, sondern noch mehr der ebenfalls weitgehend volksabgehobenen Medienzunft eine schwere Niederlage bereitet. Bis zum Wahltag haben die hochmütigen Chefredakteure die bürgergesellschaftliche Netzöffentlichkeit überhaupt nicht wahrgenommen – eine typische Ignoranz von Kartellisten, die sich für unangreifbar halten (wie einst der Adel hinter dem Schutzschild des Gottesgnadentums). In Deutschland scheinen weder Politiker noch Journalisten den beginnenden epochalen Wandel bisher begriffen zu haben. Es gibt immer mehr bürgergeleitete Demokratieformen im Internet. Was im alten Athen die Agora, sind heutzutage zunehmend Internetforen, die der Entscheidungsmacht der Politik und der Meinungsmacht der Journalisten als Korrektiv gegenübertreten. Das wirkt sich nicht allein auf die (sinkenden) Zeitungsauflagen aus, bedeutsamer ist…
© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer Aus: www.walthari.com
Erstveröffentlichung: 17. Juni 2005

5. Dezember 2008

Verschwendung, Korruption und Betrug

Teil 3, von Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

Gigantische Geldwertverlust – grob fahrlässig? Bisher hat die aktuelle Finanzkrise zu Buchwertverlusten geführt, die die Billionengrenze überschreiten. Davon betroffen sind nicht allein Banken und Unternehmen, sondern auch private Haushalte, deren Ersparnisse durch Kursverfall im Durchschnitt um ein Drittel geschrumpft sein dürfte. Die Ursachen dafür sind vor allem die amerikanische Kreditblase und abenteuerliche Finanzkonstruktionen und -engagements der Banken. So staunte man nicht wenig, als man von den globalen Verflechtungen und den unverantwortlich riskanten Geschäften der Bayerischen Landesbank erfuhr, die nur regional (bayerisch) agieren sollte. Der Preis: mindestens zehn Milliarden Euro, die vom Steuerzahler zu tragen sind, daneben ein Garantieschirm von über einhundert Milliarden! Ist eine solche Mittelverschwendung eine strafbare Handlung? Die Staatsanwaltschaft wurde bei der KfW tätig und prüft es bei Hypo Real Estate. Fahrlässige Untreue ist bei Banken nicht strafbar, weil der Vorsatz fehlt. Es gibt aber auch den sog. Eventualvorsatz, der strafbar ist. Er liegt vor, wenn ein Schaden billigend (also sehenden Auges) in Kauf genommen wird. Fallen darunter nicht auch desaströse Derivatenkonstruktionen, die sich auf dubiose Ratingbewertungen berufen, wenn die Agenturen selber an den Konstruktionen beteiligt waren? Leichter zu bewerten sind Finanzverbrechen der Mafia, die nach Angaben von Ermittlungsbehörden die Kreditinstitute immer stärker durchdringen, wie es auf der letzten ›Euro Finance Week‹ hieß.

Ladendiebstähle. Nach Angaben des Forschungsinstituts des Einzelhandels wurden 2006 in Deutschland Waren im Wert von rund zwei Milliarden Euro geklaut. Polizeilich gemeldet wurden über 428.000 Fälle.

Mafia-Umsätze. Ein italienischer Händlerverband schätzt den Jahresumsatz der Mafia auf 100 Milliarden Euro. Allein auf die ’Ndrangheta, die sich zum mächtigsten Verbrechersyndikat Europas entwickelt hat, entfallen 40 Milliarden Euro aus dem Kokainhandel usw.

Korruptionsindex. Österreich und Deutschland liegen deutlich hinter den Vorzeigeländern Finnland und Neuseeland, die als korruptionsfrei gelten (volle zehn Punkte). Die Sache wird erklärlicher, wenn man die Kriminalitätsstatistiken dieser Länder studiert.

Gesundheitskriminalität. Je drückender Bürokratie, um so größer die Versuchung zum Betrug. Diese Erfahrung macht auch vom planwirtschaftlichen Gesundheitswesen keine Ausnahme. Nach Schätzungen beträgt der Wert des Abrechnungs- und Rezeptbetrugs rund zwanzig Milliarden Euro jährlich. So soll nach Zeitungsberichten allein ein ehemaliger saarländischer Grünen-Landtagsabgeordneter und Arzt einen Schaden von 1,2 Millionen Euro verursacht haben.

Die an der Quelle sitzen. »Insider ergaunern Millionen«, lautet eine HB-Überschrift. »Großrazzia in Kommissionsbüros der EU«, schreibt die FT. Der ehemalige Chef der Weltbank gab vor, die Weltarmut am besten über Korruptionsbekämpfung lindern zu wollen – und nahm selber eine verschwenderische Hausdotierung an seine Lebensgefährtin vor.

Stadtkriminalität. Nicht Städte auf dem Balkan oder in Italien führen die europäische Kriminalitätsstatistik an, sondern London, gefolgt von Tallin, Amsterdam und Dublin. In London geschehen die meisten Einbrüche, die wenigsten in Lissabon.

Sozialkriminalität. Sie hat zwar infolge vernetzter Überwachungen abgenommen, liegt aber immer noch auf hohem Niveau und erreicht in manchen Fällen schwindelerregende Betrugsschäden. So entlarvte die Offenbacher Kreisverwaltung 71 Asylbetrüger aus Jordanien, die 3,4 Millionen Sozialhilfe erschlichen hatten. Für einen jungen Mann mit gefälschten Papieren wurden 530.000 Euro für medizinische Behandlung übernommen.

Südafrika ist Spitze. Das Land verzeichnet die höchste Kriminalität weltweit: 20.000 Morde und 56.000 Vergewaltigungen jährlich. Die nächste Fußballweltmeisterschaft wird in Südafrika ausgetragen.

Gekaufte Betriebsräte. Man nennte es Vertrauensspesen. Sie verstoßen gegen § 37 Abs. 1 des Betriebsverfassungsgesetzes und hatten bei VW skandalöse Ausmaße erreicht.

Steuerparadiese. Der deutsche Finanzminister nahm sie jüngst wieder ins Visier und billigt auch der Schweiz keinen Sonderstatus zu. Die Reaktionen waren heftig bis ausfällig. Liechtensteins Fürst bezeichnete die Bundesrepublik als (Viertes) Reich, das sein Land auch noch (wie das Dritte Reich) überleben werde. Die Lesehrbriefspalten gaben sich ungeniert antideutsch. Wer weiß schon (außer einigen Verschiebungsspezialisten), daß auch Malta, Estland und sogar die Niederlande dem deutschen Fiskus Konkurrenz machen. Nicht ohne Schadenfreude riet ein Schweizer Ökonom, daß der Finanzadel in den Steuerparadiesen am sichersten durch deutsche Steuersenkungen entmachtet werden könne.

Behandlung von Steuersündern.Der Bundesgerichtshof hat gerade mit Urteil ein Strafregister erstellt, das in das Gesamtbild paßt. Steuerfahnder besitzen in Deutschland bei ihren Aktionen Sonderrechte, gegen die beim Vollzugsgeschehen kein Anwalt eine einstweilige gerichtliche Verfügung erfolgreich erwirken kann. Ist das rechtsstaatlich in Ordnung? Auch für Bürger, die ordentlich ihre Steuern bezahlen, zeigt der Staat hier sein wahres Gesicht.
© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer. Aus: www.walthari.com
Literaturbezug: ›Das veruntreute Land‹, 2. Auflage, vgl. Walthari-Portal, Fenster Sachbücher.

13. Februar 2008

Universitäten im irrwitzigen Bologna-Prozeß

Teil 29 der Rundschau, von Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

Die Veröffentlichungen über den Niedergang der deutschen Universitäten sind nicht mehr zu überblicken. Allein in den letzten sechs Monaten habe ich rund einhundert kritische Beiträge in mein Archiv aufgenommen. Sie bestätigen ausnahmslos, was schon in den neunziger Jahren des 20. Jh.s abzusehen war, aber kaum jemand auszusprechen wagte. Worauf ich in Vorartikeln immer wieder hingewiesen habe: Die überwiegende Mehrheit der Professoren in Deutschland duckt sich weg und hat protestlos zugesehen, wie ihre Alma mater in den Ruin getrieben wurde und weiter wird. Niemand unter ihnen kann sich damit herausreden, den desaströsen Prozeß unterschätzt zu haben. Für meine Kritiken ab den frühen 90er Jahren habe ich manche Unannehmlichkeiten hinnehmen müssen. In MittHV, Heft 4/1993 (S. 272 f.) hatte ich z.B. auf die »bürokratischen Reformmittel« hingewiesen, aus denen sich »genau jener fremdbestimmte, überverwaltete Professorentyp« herausschäle, »dem sein Fachbereich vorschreibt, was er zu lehren, dem das Prüfungsamt vorgibt, was genau er zu prüfen, dem eine ›Controlling-Stelle‹ sagt, wie eine ›sachgerechte Nutzung vorhandener Ressourcen‹ aussieht und dem eine ›Leistungskriterien‹-Abfrage vor Augen hält, wie seine Lehre zu bewerten ist. Dies alles hält der Minister offenbar für eine ›Stärkung der Lehre‹, und er nimmt inkauf, daß die so gewollte ›Stärkung bestimmter Handlungsebenen (sic!) in der Hochschule‹ mit der ›Freiheit‹ des Professors zur ›Abhaltung von Lehrveranstaltungen und deren inhaltlichen (!) und methodischen Gestaltung‹ (Rh.Pf.-HochSchG § 3 Abs. 3 Satz 1) kaum vereinbar ist.«
Wie sehr sich die Lage inzwischen verschärft hat, erfährt jeder aktive Kollege im Hochschulalltag, den die Wissenschaften zum bürokratischen Vollzugs-, Prüfungs- und Evaluationsgeschäft denaturiert und der die Professorenschaft auf tiefstes Frustrationsniveau befördert hat. Im Februarheft 2008 des Hochschulverbandes kann man den verspäteten Aufschrei und die Hilferufe (immer noch anonym) von Professoren lesen, die bis zum Hals im Regulierungssumpf stecken: »Wir ersticken!« »Helfen sie uns!«

Dennoch geht die Zerstörung einer der kostbarsten Traditionseinrichtungen der abendländischen Kultur unverdrossen weiter. Obschon mittlerweile schlimme Schleifungsergebnisse (Abschaffung bewährter Studienabschlüsse, massive Eingriffe in die grundgesetzlich garantierte Lehr- und Forschungsfreiheit u.a.m.) zu besichtigen sind und der Chor der Kritiker anschwillt, lohnt es sich, der Tragödie weitere Warnsignale beizumischen. Denn das Versagen der Professoren gegenüber von ›Reformern‹, denen die Universität ein Schwarzer Kasten ist, mit dem man beliebig spielen zu können glaubt, wird in späteren Jahren zu ähnlich schweren Vorwürfen führen wie im Nachgang zu den 68er Wirren. Auch damals haben nur wenige Kollegen mutig dagegengehalten.

Ist schon alles gesagt? Selbst wenn es so wäre, hätte schweigendes Zusehen noch schlimmere Folgen.

»Etikettenschwindel«: Man lese dazu die scharfe Abrechnung der FAZ-Redakteurin Heike Schmoll in Heft 2/2008 von ›Forschung & Lehre‹ (F & L). Sie spricht von einem »nahezu totalitären Charakter« bei der sog. Forschungsförderung, vom Sprachimperialismus des Englischen, von täuschender Antragsexcellenz statt wirklicher Ergebnisexzellenz, von Verschulung, vom Verlust der Bildung u.a.m. – mehrheitlich verspätet vorgetragene Kritikpunkte, die sich weitgehend lesen, als handle es sich um eine Zusammenfassung meiner Veröffentlichung ›Die Universität als Lebensform und Reformopfer‹ aus dem Jahre 2002 (Näheres unter Sachbücher in diesem WALTHARI-Portal). Heike Schmoll tritt auch meinem Vorwurf an die Kollegen bei: »Viele Hochschulprofessoren haben sich allzu willfährig…« Und beschämend der Fußtritt von außen: »Die Professoren müssen selbst dafür kämpfen…«

»Lehrsklaven«: Jürgen Kaube macht auf »neue Lehrkräfte als universitäre ›Mindestlohnreserve‹« und auf Lehrprofessuren als »Sozialarbeiter des reformierten Universitätssystems« aufmerksam (FAZ Nr. 276/07, S. 43). »Denn die Folgen der Bachelor-Reform machen sich jetzt an den Universitäten mit großer Geschwindigkeit bemerkbar. Und je mehr sie es tun, desto weniger wird sich der eigentliche Charakter dieser Reform leugnen lassen: Eine riesige komplizierte Sparmaßnahme zu sein.«

Studentisches: Stiche ins Wespennetz auch hier, wenn man darauf hinweist, daß rund ein Drittel der Studierenden nicht studienreif ist (zeigt sich schlagartig bei Ganzschriftanforderungen); daß wohl ebenfalls ein Drittel seine Studienwahl falsch trifft und immense Umweg- und Abbruchkosten verursacht (fast 30 Prozent verlassen die Hochschule ohne Abschluß, was über sieben Milliarden Euro jährlich als Verlust zu verbuchen ist); daß allein in Rheinland-Pfalz 999 staatsanwaltliche Verfahren wegen Bafög-Betrugs in Arbeit sind; daß Textbetrug keine Randerscheinung mehr ist, worauf Suchrechner angesetzt werden müssen usw. Juristen mit beiden Examen werden in manchen Kanzleien auf Hartz IV-Niveau bezahlt. Frauen meiden trotz bester Berufsaussichten ingenieurwissenschaftliche Studiengänge. Die Universität als weitgehend anonymer Supermarkt: mit rd. 900 Studiengangsangeboten, mit einer Prof-Stud-Relation, die zum Kultushimmel schreit usw.

Jürgen Mittelstraß (renommierter Philosoph an der Universität Konstanz): »Mit Bologna wird die Universität weitgehend zur Fachhochschule… An die Stelle des Paradigmas Universität im Humboldt’schen Sinne tritt das Paradigma Schule… (Damit) verliert die Universität ihr Wesen« (FAZ Nr. 11/08, S. 7).

Universitätspräsidenten: Ein Romanist, Jürgen Trabant, FU Berlin, kritisiert: »Für den Erfolg machen Universitätspräsidenten alles, ihre wissenschaftlichen Überzeugungen sind nichts wert, wenn sie nur beim nächsten Hype dabei sind.«

Rankingwahn: Universitäten unter Ferner-liefen empfinden sich als gefühlte Volkshochschule. »Regionalklitschen« – ein böses Wort macht die Runde.

14. Februar 2008

Universitäten im irrwitzigen Bologna-Prozess

Teil 30 der Rundschau, von Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

Falsche Versprechungen: BA sollte die Studienzeit verkürzen und den Berufseinstieg erleichtern. Das Controlling der FU Berlin meldet: Nicht einmal ein Drittel schließt mit der Regelstudienzeit ab (Newsletter 12/07 des DHV).

Politikerprosa: CDU-Fraktionschef Christian Baldauf im Mainzer Landtag: Die Landesregierung in Mainz »vernachlässigt seit vielen Jahren schon die Hochschullandschaft auf den Rücken der Studierenden und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter« (in: ›StaatsZeitung‹ Nr. 18/06, S. 4). Professoren als Mitarbeiter – verräterische Parlamentariersicht.

›Professor Untat‹: So der Buchtitel eines Pamphlets, das rund die Hälfte aller Hochschullehrer der Faulheit bezichtigt. Die beiden Autoren leiden unter Wahrnehmungsschwäche. Nicht faul, sondern resignativ verbringen Hochschullehrer ihre lange Wochenarbeitszeit als Lehr- und Prüfungssklaven. Wes Geistes Kind die luftige Reportage ist, geht aus der Meinung hervor, Vorlesungen seien überflüssig. Die Universität als Lernfabrik: genau darauf berufen sich Hochschulpolitiker.

»Wer seine Studenten duzt, gibt ungern schlechte Zensuren« (Rheinischer Merkur, Nr. 7/07, S. 18).

»Zu viel Einzelforschung. Das saß. Meine Arbeitsweise hatte ihren Stempel weg…« Unter der Überschrift ›Lob der Einzelforschung‹ verteidigte der bekannte Philosoph Martin Seel in der ›Neuen Rundschau‹ (Heft 2/06, S. 41-53) eine Form wissenschaftlicher Tätigkeit, die mittlerweile geradezu als Sündenfall gilt. Im postmodernen Wissenschaftsbetrieb zählen nur namensangehäufte Netzbruderschaften.

»Erhöhter Konformismus«:»In Deutschland sorgt der ›Bologna-Prozeß‹ vor allem für erhöhten Konformismus«, schreibt Joachim Güntner in der NZZ 330/06, S. 25. Eine alles beherrschende Nomenklatura aus Akkrediteuren, Planern, Bildungsberatern und anderen Räten habe die Universität unter der Aufsicht der Ministerien fest im Griff.

Trauergesang: In seinem Erinnerungsbuch ›Mit dem anderen Auge‹ fällt Peter Wapnewski in tiefe Trauer, wenn er an die Bildungskraft der alten Universität denkt. Da waren noch Begeisterung und Selbstverantwortung am Werk.

Bachelor-Master-System: »Bisher waren Medizin und Jura die beiden Wissenschaften, die man mit gutem Grund von diesem Verdummungsprozeß freihalten wollte. Aber so die beiden Justizminister: ›Der Bologna-Prozess kann nicht aufgehalten werden.‹ Das erinnert mich immer an Erich Honeckers goldenen Satz: ›Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.‹… Die Bachelors des Rechts, mikrowellenartig erhitzte Vierteljuristen, die man nach sechs Semestern aus der Universität jagt, werden ein pseudo-akademisches Proletariat darstellen, das mangels jeglicher fundierter Ausbildung, niemand brauchen kann: ihm steht, wenn es mit dem Job in der Gerichtskantine nichts wird, nur noch eine Karriere in einer der politischen Parteien offen« (Prof. Dr. Rainer Zaczyk, Bonn; Hervorhebung: E.D.).

Clemens Albrecht, Uni Koblenz-Landau:»Ein neuer Typus entsteht in der Wissenschaft: der außengeleitete Charakter« (in: F&L Nr. 8/07, S. 455).

»Bologna-Irrsinn«: Unter diesem Stichwort sieht der Soziologe Stefan Kühl (Uni Bielefeld), auch die »Verregelung der Universität«, welche die Professoren permanent zu »Regelverletzungen« zwinge. »Der Arbeitstag eines Professors besteht heutzutage aus einer einzigen Aneinanderreihung von Regelverletzungen: man läßt Studenten zu Veranstaltungen zu, die man eigentlich nicht zulassen darf, man gibt eingescannte Blankounterschriften für Mitarbeiter aus, um nicht einen (Unter-)Schreibkrampf zu bekommen, datiert Reisekostenanträge zurück, um Fristen zu wahren, manipuliert an den Verbuchungen von Ausgaben herum, um seinen Haushalt auszugleichen oder schreibt Zweitgutachten für Arbeiten, die man nicht gelesen hat und übernimmt dabei blind die Note des Erstgutachters. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen« (F & L 12/07, ‚S. 720).

Landauer »Schildbürgerstreich«:Nein, nicht die Karnevaleske vor der Wahl des Oberbürgermeisters dieser Stadt nahm die FAZ Nr. 219/07 (S. 2 !) ins ironische Visier, sondern den von der FDP beantragten Armutsbericht. »Untersucht werden sollten auf Steuerzahlers Kosten unter anderem ›Umfang und Ursachen der Armut, Entwicklung der Armut in den letzten fünf Jahren und spezifische Angebote für einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen‹. – Auf Anregung des am 2. September zum Oberbürgermeister gewählten SPD-Kommunalpolitikers Hans-Dieter Schlimmer hatte sich der Stadtrat zuvor wissenschaftlichen Sachverstand zur Klärung der Armutsfrage von zwei Professoren der Universität Koblenz-Landau geholt. Wie gute deutsche Handwerker machten die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Thomas Müller-Schneider und Werner Sesselmeier dem Stadtrat Anfang Juni ein Angebot samt Kostenvoranschlag, die Armut in Landau statistisch zu erfassen und zu analysieren. Zum ›Selbstkostenpreis‹ von 10.000 Euro sollte der vorhandene Datenbestand über Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfänger gesichtet und aufbereitet werden.« Der alte OB im FAZ-Zitat: »‹Es sei … zu bezweifeln, dass grundlegend neue Erkenntnisse aus dem Bericht gewonnen werden könnten.« Das Projekt wurde gestoppt.

»In Indien ist das Studium am günstigsten.«So titelte allen Ernstes die Financial Times Deutschland vom 1. September 2006 auf Seite A 5. Das günstige Angebot werde von »künftigen Führungskräften erst langsam« entdeckt. Man wohnt »auf einem abgezäunten Campus wie im Hotel…«.
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Wird fortgesetzt

23. März 2008

Kultdenker Erich Fromm

geb. am 23. März 1900 in Frankfurt/M.,, gest. am 18. März 1980 in Muralto (Schweiz)

Die Wirren des 20. Jahrhunderts und das irrlichtende Denken lassen sich an der einstigen Kultgestalt exemplarisch aufweisen. Der Frankfurter, den es um die halbe Welt trieb, glaubte den letzten Dingen auf ihren Grund schauen zu können – stets eine Ursache für Ideologiebildung mit fanatischer Anhängerschaft. Wer in den 80er Jahren nicht ›Haben oder Sein‹ (dt. 1976) gelesen hatte, war von gestern. Wie Heinrich Heine gerierte er sich als Quasi-Religionsgründer zudem als Verkünder einer neuen Gesellschaftsordnung: »Die neue Gesellschaft und der neue Mensch werden nur Wirklichkeit werden, wenn die alten Motivationen – Profit und Macht – durch neue ersetzt werden: Sein, Teilen, Verstehen; wenn der Marktcharakter durch den produktiven, liebesfähigen Charakter abgelöst wird und an die Stelle der kybernetischen Religion ein neuer, radikal-humanistischer Geist tritt.« Das paßt zu seiner utopischen Mélange aus Messianismus, Buddhismus, Marx und Freud. Sich selber verstand er als »atheistischer Mystiker, (als) ein Sozialist, der sich im Gegensatz zu den meisten sozialistischen und kommunistischen Parteien befindet, (als) ein Psychoanalytiker, zugleich (als) ein sehr unorthodoxer Freudianer«. Fromm saugte viele geistigen Strömungen der ersten Jahrhunderthälfte in sich auf, die er zu einer Einheit zusammenführen wollte – auf Kosten der inneren Stimmigkeit und des Realitätssinns. Das hinderte ihn nicht, eine Autobiographie unter dem Titel ›Jenseits der Illusionen‹ zu schreiben (1962, also lange vor seinem Tod). Im Zentrum steht seine Triebtheorie, mit der er selbst seine Sozialpsychologie zu legitimieren suchte, ganz so, als gäbe es neben dem individuellen auch einen kollektiven Trieb in einem gedachten Sozialkörper. Aufgabe der Sozialpsychologie sei es, »die Triebstruktur, die libidinöse, zum großen Teil unbewußte Haltung einer Gruppe aus ihrer sozioökonomischen Struktur heraus zu verstehen«. Das ist freudianisch nachgefärbter Marx, womit die »Kenntnis eines der im gesellschaftlichen Prozeß wirksamen Faktoren, der Beschaffenheit des Menschen selbst, seiner ›Natur‹« materialistisch legitimiert werden soll. Ab 1938 veröffentlichte er in englischer Sprache. Aus seiner Charaktertheorie leitet er einen »normativen Humanismus« ab. Seine Gesellschaftstheorie (›Wege aus einer kranken Gesellschaft‹, 1955) mündet in einen »kommunitären Sozialismus« mit einer radikal-demokratischen Forderung, die er mit der Friedensbewegung und mit dem McCarthytum für verträglich hielt. Ab 1956 lebte er in Mexiko und schrieb auch auf spanisch. Für viele seiner Anhänger war und ist er ein Prophet.
© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer – Aus: www.walthari.com

21. März 2008

Ausgehebelte Annalistik – Chronos verirrt sich im Internet

Von Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

In die Annalen einzugehen ist der Traum aller Ruhmbesessenen und als allgemeiner Vorgang ein ungelöstes Berufsproblem bei Historikern. Der Platzanspruch Ruhmsüchtiger im Zettelkasten der Geschichte ist nur ein aufdringlicher Fall im historischen Portfolio, das sich selber erkenntnistheoretisch infrage stellt: Ist das, was festgehalten wird, das Ereignis selber oder handelt es sich lediglich um dessen Beschreibung, angetrieben von zeitbedingten Erwartungen und Vorurteilen? Sprachphilosophisch sind historische Vorgänge gar nicht anders zu haben als über Vermittler (Sprache und/oder Bilder). Ins Unscharfe gerät die Sache dadurch, daß es kaum neutrale Mitteilungen gibt, sondern immer nur medial eingefärbte und mitkonstruierende Sachbeschreibungen. Diese unhintergehbare Einbettung verändert den Sach-Verhalt, d.h. die Art und Weise, wie es sich mit der Sache verhält. Das führt nicht allein zu der Frage, ob das beschriebene Ereignis so oder vielleicht anders stattgefunden haben könnte. Man kann sogar daran zweifeln, ob es das Ereignis überhaupt gegeben habe, wenn die Variationsbreite der Interpretationen indizienoffen ins Beliebige ausufert. Hat Wilhelm II. vor 1914 dem Wiener Kaiserkollegen wirklich eine Blankovollmacht über das Einschreiten des deutschen Heeres auf dem Balkan gegeben oder sind die beiden zitierten Aussagen nur Akte symbolischer Höflichkeit gewesen, denen ein Ereignischarakter nicht zukommt, jedenfalls nicht von der späteren welthistorischen Bedeutung?
Keineswegs ist es einem Übermut der Historiker zuzuschreiben (und nicht nur ihnen), wenn es den Anschein hat, als habe man sich in eine Sackgasse der Erkenntnis manövriert. Die Beschreibung eines Ereignisses garantiert noch nicht seine Existenz, mag die Mitteilung noch so schlüssig ausfallen. Womit läßt sich es aber zweifelsfrei beglaubigen? Die Antwort fällt leichter, wenn man zwischen einem interpretationsoffenen Rahmen (mit Akzidenzien) und dem Ereignis selber unterscheidet. Wie es wirklich in Canossa im Jahre 1077 abgelaufen ist, ob Heinrich IV. tatsächlich im Büßerhemd vor der Burg hat ausharren müssen, sogar barfuß im Schnee, bis ihn der Papst vom Bann lossprach, mag man nicht einmal zeitgenössischen Berichten abnehmen, sind doch auch diese unter Deutungsperspektiven abgefaßt worden. Woran nicht zu zweifeln ist: Daß der deutsche Kaiser wirklich nach Canossa reiste, um sich vom päpstlichen Bann befreien zu lassen. Dieses nackte Faktum ist Glied einer annalistischen Reihung, welche chronologisch Ereignisse festhält, legitimiert durch mehrere Quellen, die trotz ihrer Deutungsbeigaben das Faktum selber nicht infrage stellen (können).

Mit dem Rückzug auf annalistisch beglaubigte Daß-Ereignisse ist keineswegs ein Deutungsverbot ausgesprochen. Was mit der Differenz von Interpretation und Faktum erreicht wird, entspricht einem Redlichkeitsgewinn in allen Erfahrungs- und Sozialwissenschaften, die sich bewußt werden, daß ihre Wahrnehmungen vom konstruktivistischen Beiwerk zu befreien sind, um das Ereignis als wirklich erkennbar zu machen. Dafür ist die Annalistik zuständig, an deren Zeitdiktat nicht zu rütteln ist. In einem zweiten Schritt beginnt nun das subjektive Deutungsgeschäft, die Suche nach den Motiven und Gründen, die auch verdeckt in den Vorgängen stecken können. Auf dieser annalistisch-hermeneutischen Basis hat Lucian Hölscher eine neue Theorie der Geschichte vorgeschlagen (›Neue Annalistik‹, Wallstein Verlag, Göttingen 2003, 96 Seiten). Notate in den Spalten der unbestechlich ablaufenden Zeit – diese Chronologie ist ein sicheres Fundament für die Existenz von Ereignissen. Was könnte das Zeitdiktat ins Wanken bringen? Die wild gewordene Postmoderne usurpiert Zeit-Räume in einem Grade wie in keiner Epoche zuvor. Was an zeitumstürzenden, zumindest zeitverwirrenden Virtualitäten aufgeboten wird, trivial in Medien und komplex in den Wissenschaften, scheint auch die Chronologie aus der Bahn zu werfen. Demgegenüber ist z.B. die ›alte‹ Möglichkeitswahrscheinlichkeit, daß Marco Polo seine China-Erlebnisse auf der Grundlage anderer Berichte nur erfunden haben könnte, ein historisches Kleinkunstwerk. Im Internet verliert Chronos seine Spuren. Die virtuellen zeitlosen Welten auf allen Lebens- und Wissenschaftsfeldern besitzen keinen gemeinsamen Fluchtpunkt, kein Prinzip für Wahrheit mehr. Sie verdecken die Differenzen zwischen Fakten und Möglichkeiten weitgehend. In diesen changierenden Welten ist die Zeit verdunstet und die Chronologie ein reversibles Spiel.
Unter den Folgen ist die Ewigkeitsillusion die verheerendste. Wenn die Schwere der Existenz nicht mehr am Zeitmaß abgelesen werden kann, steht in der Wahrnehmung der zerknirschte Kaiser Heinrich IV. immer noch barfuß im Schnee.
Zuerst veröffentlicht am 22. Juli 2006 in dieser WALTHARI-Zeitung.
© WALTHARI® – Aus: www.walthari.com

11. Dezember 2007

Marquard, O.: Skepsis in der Moderne. Philosophische Studien

Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 2007, 128 Seiten, 4,- Euro

Am 26. Februar 2008 wird Odo Marquard achtzig Jahre alt. Der Rezensent gehört seit Jahren zu seinen unbemerkten Lesern, und zwar zu denjenigen, die fast alles von ihm gelesen haben und mit fast allem, was der skeptische Philosoph geschrieben hat, einverstanden sind. So auch diesmal. Zu lesen sind zehn Texte, die für Vorträge und Aufsätze entworfen wurden, mit Ausnahme eines Gesprächs über die ›Weigerungesverweigerung‹. Man trifft auf bekannte Denkmuster und Schlüsselbegriffe, darunter Skepsis, Üblichkeit, Herkunft, Geschichtsphilosophie, Kompensation und Kontingenz, Fortschritt. Nur wenige Fragezeichen habe ich an den (dafür viel zu kleinen) Rand des Reclamheftes gesetzt, so bei der Prognose, daß »jeder weitere Fortschritt der harten Wissenschaften« (gemeint sind die Naturwissenschaften) »… einen zunehmend erweiterten Bedarf an erzählenden Geisteswissenschaften erzwingen« und den »Siegeszug des Romans« fortsetzen werden. Derzeit entkernt man die Geisteswissenschaften im Furor des BC- und MA-Betriebes. Und die Kunst des Romanschreibens wird nicht nur von Botho Strauß formkrisenhalber infrage gestellt (in: ›Die Unbeholfenen‹). Gewiß, ein Kompensationsbedarf besteht, aber worin manifestiert er sich? Profan im Boulevard, künstlerisch in formlosen Beliebigkeiten. Was wir vorfinden ist eine Kompensationskrise mit esoterischem Storyschaum. Meine Fragezeichen werden beim Lesen durch ein Vielfaches an zustimmenden Randbemerkungen kompensiert. Philosophiert wird über Kunst und Politik, über Heinrich Heine und Joachim Ritter, über Renaissance, Freiheit und Pluralität. Das alles kommt kleingedruckt daher und verlangt ganze vier Euro als Lesemaut, wo doch Großes dahinter sich verbirgt. So ist es bei Marquard: »Das Normative ist vor allem das Kleine.« Auch den »Krisenstolz« will er kleinhalten, die Pflicht zum Nachdenken aber ganz groß. Mit vorauseilendem Glückwunsch: Poscimus – Wir sind gefordert. Bei Horaz weiter (Carmina, 1,32, 1 ff.): Si quid vacui sub umbra / Lusimus tecum, quod et hunc in annum / Vivat et pluris, age dic Latinum, / Barbite, carmen.

©Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate. Aus: www.walthari.com

20. Februar 2007

Lebenslügen der Universität

Teil 19 der Rundschau, von Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

»Den höchsten Typus freier Menschen hätte man dort zu suchen,
wo beständig der höchste Widerstand überwunden wird:…
dicht an der Schwelle der Gefahr der Knechtschaft.«
Fr. Nietzsche, aus ›Steifzüge eines Unzeitgemäßen‹, Ziff. 38

»Lebenslügen der Universität« nennt Christian Toepfer von der Universität Erlangen-Nürnberg (Theoretische Physik) das »Versteckspiel zwischen Wissenschaft und Politik«. »Man spricht von universitärer Autonomie, macht aber ständig neue Vorgaben.« Die Universitäten seien stärker politisiert, »als sie es wahrhaben wollen.« Geleugnet würden die Zielkonflikte zwischen Abbrecherquoten, Studiendauer und Qualität des Studiums. Willkommen sei alles, was Geld und Prestige bringe. Daher nehme man die Wissenschaft »an die Kandare.« »Wissenschaftler flüchten sich in Zynismus« angesichts fachfremder Aufpasser und Senatsberichtserstattern in Berufungskommissionen. Wissenschaftlicher Fortschritt lasse sich nicht bestellen und Berufungen nicht anhand dubioser Indikatoren (»Höhe der eingeworbenen Drittmittel und dergleichen«) qualitativ absichern. Eine Gleichmacherei habe »Berufsschulstudiengänge mit dem Mantel eines Bachelors an Universitäten« hoffähig gemacht (FAZ Nr. 8/2007, S. 33).

Der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp (Universität Hamburg) sieht DDR-Muster in der Universität aufleben. Denn »mit Bologna (kam) der Durchbruch zur akademischen Planbewirtschaftung, der uns mittlerweile 100-seitige Studienordnungen beschert hat.« Es handle sich um »die höchste Regelungsdichte seit Beginn schriftlicher Aufzeichnungen«. Voller Zynismus empfiehlt der Hamburger Gelehrte eine »Toter-Mann-Taste« auf Unirechnern und einen »Margot-Honecker-Preis für Deregulierung im Bildungswesen«. »Sehr DDR-konform ist schließlich die Art und Weise, wie der Slogan, unter dem alles läuft, zur Gehirnerweichung führt – Double-bind nennt das die Wissenschaft.« Internationalisierung fange zuhause an, mit einer Ausstattung, die sich schon Kasachstan leiste. Diese scharfe Attacke war immerhin der Aufmacher in ›Forschung & Lehre‹, Heft 1/2007, das von rd. 20.000 Hochschullehrern gelesen wird.

Solche Stimmen häufen sich und steigern den Ton von Klage auf Verriß und von Verriß auf Widerstand. Ist es zu gewagt, vorherzusagen, daß die Hochschullehrer in Deutschland in nicht allzu ferner Zukunft es den Ärzten gleichtun und zum aktiven Protest übergehen werden, nach langen Jahren lammfrommer Hinnahme ruinöser Universitätseingriffe?

»Viele Wissenschaftspolitiker finden offenbar eine große Freude daran, althergebrachte Dignitätssymbole der deutschen Universität abzuschaffen«, bemerkt Kolleg Dietrich von der Oelsnitz (Universität Ilmenau) und beklagt das Übergewicht der »berufsorientierten Spezialausbildung« und den Niveauverlust (Masterabschluß ohne Abitur). »Eingeklemmt zwischen Humboldt und McKinsey kommt die Universität schnell unter die Räder, wenn nicht zwei schlichte Tatsachen akzeptiert werden. Erstens: Bildung ist nicht Ausbildung! Und zweitens: Wettbewerb bedeutet Auslese!« (Forschung & Lehre, 12/06, S. 693).

Der Münchener Anglist Christoph Bode traut den Politikern nichts Gutes mehr zu: Die politischen Vorgaben zerstörten die Wissenschaftstradition und die Erfolgsmöglichkeiten der Universität. Bode prangerte die »naive Vorstellung von Politikern und Wissenschaftsfunktionären« an, eine unmittelbaren volkswirtschaftlichen Nutzen von den Universitäten zu verlangen. Den Professorenkollegen schreibt er ins enigmatische Poesiealbum: Wer sich dem politischen »Diktat« beuge, spiele das Spiel derer mit, die nicht verstanden hätten, was Universität sei.

Von »geistiger Selbstkolonisierung« spricht der Philosoph Konrad P. Liessmann (Wien). »Durch die verpflichtende Einführung dreijähriger Bachelor-Studien für alle Fächer sollen die Universitäten die Aufgabe erhalten, primär eine protowissenschaftliche Berufsausbildung zu leisten. Auf kaltem Wege wird der Sinn der Universität als Stätte der wissenschaftlichen Berufsvorbildung, die ihre Voraussetzung in der Einheit von Forschung und Lehre hat, liquidiert« (Forschung & Lehre 1/2007, S. 28).

Genau diese Trennung hat der Wissenschaftsrat kürzlich gefordert. Sogenannte ›Lehrprofessuren‹ sollen das Mengengeschäft der überbordenden Modulvermittlungen, Prüfungen, Korrekturarbeiten usw. hauptberuflich übernehmen, jenseits aller Forschungseinbindung. Faktisch handle es sich, so Jürgen Kaube, um Lehrsklaven, um Minorprofessoren, deren Einstellungsvoraussetzung ebenso abgesenkt werden wie deren Gehalt. Prompt hat denn auch der Deutsche Hochschulverband dagegen protestiert und an die Traditionsmarke ›Einheit von Forschung und Lehre‹ erinnert.

Zu spät haben die Universitäten erkannt, was ihnen die Bolognarisierung eingebracht hat: ein niveausenkendes Mengengeschäft, ein Auseinanderdriften von Forschung und Lehre, eine bildungsverfehlende Kommerzialisierung, eine gesteigerte Unterfinanzierung, eine universitätswidrige Herrschaftsoligarchie u.v.a.m. ›Bologna‹ ist das Einfallstor derjenigen, die in der Tat nicht verstanden haben, was die Universität ist und zu leisten vermag. Im Rückblick, vielleicht schon vom Jahr 2020 aus, wird man vermutlich feststellen müssen, daß die ›Bolognesen‹ die Universität stärker destabilisiert haben als die Achtundsechziger. Niemand wird allerdings behaupten können, es hätte keine laut warnenden Stimmen gegeben. Mit einer Mischung aus Trauer und Wut schreibt der Philosoph Martin Seel gegen universitäre Lebenslügen an: Zielvereinbarung, Effizienz u.a. (in: ›Neue Rundschau‹, Heft 2/2006, S. 41 ff.). Interdiziplinarität sei der »große Fetisch des gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebs«. Sein Fachkollege K. P. Liessmann wehrt sich voller Zynismus: »Ganz nebenbei produziert der künstlich erzeugte Wettbewerbsdruck eine neue, eigene Literaturgattung: die Antrags-, Projektbeschreibungs-, Selbstdarstellung- und Bewertungsprosa. Zu dieser gehört nicht nur das gekonnte Jonglieren mit Zahlen und Statistiken, sondern auch die bemerkenswerte Fähigkeit, dem Zeitgeist genau abzulauschen, welche wissenschaftlichen Trends als zukunftsfähig gelten könnten und in welchen Segmenten es sich daher lohnt, jene transdisziplinär vernetzten und international begutachteten Projektanträge zu stellen, die dann bei einer allfälligen Evaluation als die großen Pluspunkte verbucht werden können. Unter diesen Bedingungen wächst natürlich nicht Forschung, wohl aber der organisatorische, bürokratische und poetische Aufwand für diese. Projektanträge erreichen mittlerweile Dimensionen, die dem Vernehmen nach dazu führen, dass manch ein Antragsteller gleich den Antrag als wissenschaftliche Publikation deklariert – was insofern durchaus sinnvoll ist, als ja, wie schon Daniel Defoe wußte, ein Projekt ein ›großartiges Unternehmen ist, das zu breit angelegt ist, als dass aus ihm etwas werden könnte« (a.a.O., S. 29; Hervorhebung: E.D.).

Die Bolognarisierung hat die Universität einem Politik- und Ökonomiemodell unterworfen, dessen ›Gewinne‹ (Durchflußbeschleunigung, modulschrittig genaue Kontrolle usw.) teuer erkauft werden: mit der Zerstörung bewährter Strukturen. Wenn schon Kosten-Nutzen-Kalküle die neue Beherrschungsformel ist, dann dürfen dem erwarteten Nutzen die bereits eingetretenen Kosten schonungslos gegenübergestellt werden: Schwächung der Lehrstühle, Emergenzverluste durch Einschränkung der Lehr- und Forschungsfreiheit, Bildungsverluste infolge vertakteter Ausbildungsdominanz, innere Kündigung vieler Professoren (›Entpflichtungssehnsüchte‹) u.v.a.m.
Zu den Bolognagewinnern gehören zweifellos die neuen inneruniversitären Machtträger (Präsident bzw. Rektor, Dekan) und die extern mitbesetzten Gremien. Das »Politikmodell einer unternehmerischen Universität« hat die »auf Selbststeuerung setzenden und sehr autonom handelnden Professorenschaft«, so Jürgen Weibler von der Fernuniversität Hagen, in die Zwangsjacke von planwirtschaftlichen Studiengängen und Kontrollen gesteckt. »Die Ökonomisierung des Lehr- und Forschungsbetriebes pflanzt den Universitäten eine neue Steuerungslogik ein.« Diesen Code (Kosten-Nutzen-Kalkül) habe, so Kollege Weibler weiter, die Universität »mit guten Gründen stets abgelehnt«: das ehemals freie »Zusammenspiel von Professoren, Fakultäten und Universitäten« sei einem Konkurrenzkampf und fragwürdigen Meß- und Sanktionsmechanismen gewichen, darunter die Formel: »Zitierhäufigkeit senkt Lehrdeputat«. »Über alledem schwebt… eine institutionalisierte ›Fremdherrschaft‹, verkörpert durch den Hochschulrat, der, gesichert durch eine externe Stimmenmehrheit, einen Rückfall in alte Spielzüge verhindern soll.« Im Grunde, so der Personalwissenschaftler abschließend, liege ein Vertrauensverlust vor, bekanntermaßen das tödlichste Gift jeglicher Motivation…
Das alles heißt nicht, die Universität bedürfe keiner Reform. Doch deren Gesicht fiele, wie ich an anderer Stelle dargelegt habe…
© WALTHARI® – ausgenommen die Originalzitate. Aus: www.walthari.com

13. April 2007

Zwischen Bolognaversagen und Eliteflucht

Teil 20 der Rundschau, von Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

In Teil 19 dieser Rundschau-Serie lautete ein Zwischenergebnis: »Zu spät haben die Universitäten erkannt, was ihnen die Bolognarisierung eingebracht hat: ein niveausenkendes Mengengeschäft, ein Auseinanderdriften von Forschung und Lehre, eine bildungsverfehlende Kommerzialisierung, eine gesteigerte Unterfinanzierung, eine universitätswidrige Herrschaftsoligarchie u.v.a.m. ›Bologna‹ ist das Einfallstor derjenigen, die in der Tat nicht verstanden haben, was die Universität ist und zu leisten vermag. Im Rückblick, vielleicht schon vom Jahr 2020 aus, wird man vermutlich feststellen müssen, daß die ›Bolognesen‹ die Universität stärker destabilisiert haben als die Achtundsechziger. Niemand wird allerdings behaupten können, es hätte keine laut warnenden Stimmen gegeben.«

Dieser Destabilisierungsprozeß der Universitäten geht unvermindert weiter, obschon immer mehr Untersuchungsergebnisse belegen, daß die Bolognaziele verfehlt werden. Es dürfe kein Zurück geben, die Reform habe eine unaufhaltsame Eigendynamik gewonnen, lautet die Schutzbehauptung. Doch schon das »Mantra der Autonomie« erweise sich als »Etikettenschwindel«, schreibt Heike Schmoll. »Denn paradoxerweise wird im Namen der Freiheit zugleich ihre Unmöglichkeit verkündet«, stellt sie im Leitartikel der FAZ Nr. 68/2007 fest und fährt fort: »Nie haben Universitäten scheinbar so große, in Wahrheit so geringe Freiräume besessen wie im Zeitalter der autonomen Hochschule.«

In einer Kleinnotiz versteckt die FTD (Financial Times Deutschland vom 4. April 2007), die seit Jahren für den Bolognaprozeß plädiert, ihren Schrecken über das Desaster des Bachelor-Angebots. »Nur eine einzige Universität hat es unter die Spitzengruppe in einem aktuellen Rating von fast 400 ingenieurs- und betriebswirtschaftlichen Bachelor-Studiengängen geschafft. Das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) und der Arbeitskreis Personalmarketing (DAPM) bewerten darin die ›Employabilitiy‹, die berufliche Verwertbarkeit der Fähigkeiten, die Studenten in ihrem Studium erwerben… Ein Fünftel der Bachelor-Angebote fiel im Rating durch, auch an renommierten Unis. So erhielten die BWL-Studiengänge in Göttingen und Hohenheim nur einen von fünf möglichen Sternen. Lediglich 20 Prozent aller Studiengänge erfüllten in den Bereichen Methodenkompetenz, Sozialkompetenz, Praxisbezug und Internationalität die Kriterien für eine Einstufung als ›gut‹ oder ›sehr gut‹. 13 Angebote erhielten die Bestnote ›sehr gut‹.«

Eine Zwischenbilanz in ›Forschung & Lehre‹ (4/2007, S. 214) fällt ebenfalls ernüchternd aus. »Die Abbruchquoten sollten gesenkt, Studierbarkeit und Studienerfolg verbessert werden. Nachdem Bachelor- und Masterstudiengänge inzwischen nahezu die Hälfte (45 Prozent) des Studienangebots an deutschen Hochschulen ausmachen, stellt sich die Frage, ob den genannten Zielen in der Praxis tatsächlich entsprochen wird.« Eine Evaluation des Hochschul-Informations-Systems (HIS), bisher ebenfalls ein Befürworter des Bolognaprozesses, kam beim Modellversuch ›Gestufte Lehrerbildung‹ zu dem Ergebnis, daß die internationale Mobilität der Studierenden »aufgrund der festgelegten Modulstrukturen« eingeschränkt werde. »Noch bevor die Bologna-Reform, die deutscher Übereifer bis zum Jahr 2010 durchsetzen will, beendet ist, hat sich ihr wichtigstes Ziel als blanke Utopie herausgestellt« (FAZ Nr. 78/2007, S. 8, Hervorhebung: E.D.).

Im ›Newsletter 3/2007‹ des Deutschen Hochschulverbandes (DHV) kommen die universitären Erschütterungen durch den Bologna-Prozeß ebenfalls zum Ausdruck. »Schluß mit der Akkreditierungsbürokratie«, wettert der DHV-Präsident Kempen. Das Verfahren sei »teuer, bürokratisch, langsam, ineffizient, rechtlich zweifelhaft und autonomiefeindlich«. Der DHV fordert außerdem die seit 1995 eingesparten 1.500 Professoren zurück und verurteilt erneut die Einführung von Lehrprofessuren, wie sie von der BW-Landesregierung gerade beschlossen wurde. Aber nicht nur dieser Bruch mit einem zentralen Qualitätsstück der deutschen Universität (Einheit von Forschung und Lehre) kümmert die Hochschulpolitiker im Parteienstaat wenig. Die BW-Reformer hebeln auch das altehrwürdige Verbot von Hausberufungen auf und begeistern sich an einer verdoppelten Frauenquote in Berufungskommissionen. Reichlich Stoff für künftige Historiker, die den Universitätsniedergang Marke ›Bologna und die Folgen‹ erforschen werden. Kennzeichnend: Statt mit ›ordentlichen‹ Professoren will man mit billigeren Juniordozenten des Massenbetriebes Herr werden.

Als die wendegeübten Hochschulpolitiker die Emeritierung abschafften und Professoren wie Kreisbauamt-Bedienstete mit 65 Jahren in Pension schickten, war unschwer vorherzusagen, daß diese Berufsverhunzung eines Tages rückgängig gemacht werden muß. Jetzt ist es soweit. Als Vorreiter hat man die Direktoren der Max-Planck-Institute ausgewählt: Rente erst mit 68 Jahren – wie in den einstigen Berufungsvereinbarungen. Hier entlarvt sich eine der Lebenslügen der Hochschulpolitik, deren »Fassadenkonstruktion« der Philosoph Reinhard Brandt seit Jahren geißelt.

Auf die Frage, warum er Deutschland den Rücken kehren wolle, antwortete der Spitzenökonom Harald Uhlig (von der Berliner Humboldt-Universität): »Ich bin Wissenschaftler. Wenn die Bedingungen hier so wären wie in Chicago, dann würde ich nicht gehen.« Die chronische Unterfinanzierung und bürokratische Planwirtschaft an deutschen Universitäten hat in der Vergangenheit ungezählte Spitzenforscher veranlaßt, ins Ausland abzuwandern. Dadurch ging bestes Geistkapital für Deutschland verloren. Mit billigem Reformaktivismus sucht die Hochschulpolitik von diesem Desaster abzulenken.

Italienische Universitäten betrachten die Bologna-Reform als abgeschlossen. Man vermeidet das negativ aufgeladene Kürzel Bologna und spricht stattdessen von ›3 + 2‹ (tre piu due). Zum Ergebnis rechnen gestiegene Studentenzahlen bei gesunkenem Leistungsniveau, wie Franz Haas in der NZZ (Nr. 38/2007, S. 25) zu berichten weiß: »Niemand macht sich die Illusion, dass das dreijährige Kurzstudium ein Ersatz für den einst vierjährigen Lehrgang sei. Ein heutiger Bachelor zählt auf dem italienischen Arbeitsmarkt kaum mehr als vor einer Generation ein gutes Abitur, ausgenommen einige technische Fächer und Glücksfälle. Wer einen ernstzunehmenden Abschluß will, muß die zweijährige Spezialisierung zum Master dranhängen, dann ist er etwa so weit wie seine älteren Kollegen ehemals nach vier Jahren. Die neue Rechnung lautet ungefähr: drei plus zwei ist gleich vier. Der Schwindel hält sich also in Grenzen« (Hervorhebung: E.D.). Wenn im Jahre 2010 der Bologna-Prozeß in Deutschland abgeschlossen sein wird, könnte die italienische Lösung auch hierzulande eingetreten sein.
© WALTHARI® – ausgenommen die Originalzitate. Aus: www.walthari.com

8. Februar 2007

Abendländerei

Von Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

Mit Morgenländerei bezeichnet man seit der Aufklärung die ewigen Unruhen im Nahen Osten, die von der Antike bis in die Gegenwart reichen und unzählige Menschenopfer gekostet haben. Gewiß, auch in anderen Erdteilen kam und kommt es immer wieder zu schweren Konflikten, doch das sog. Nah-Ost-Problem hebt sich davon durch seine Dauer und Komplexität ab. Nicht ohne Grund nimmt es seit je einen Kopfrang in den Weltnachrichten, bei der UNO usw. ein.

Kann man, gleichsam als Pendant, auch von einer Abendländerei sprechen? Wenn ja, was wäre darunter zu verstehen? Vom Morgenland sprach man schon in der Bibel: Sterndeuter kamen aus dem Osten, also Morgenland (ex oriente, Mt. 2.1). Seit Luthers Bibelübersetzung (1529) ist das Gegenstück dazu, das Abendland, geläufig als geographische Bezeichnung für Westeuropa (nach Konrad Repgen). Um 1800 wurde der Abendlandbegriff zum Widerpart der Aufklärung, vor allem bei den Romantikern, die das abendländische Mittelalter idealisierten, um gegen das beginnende Fabrikzeitalter zu opponieren. Novalis (1772-1801) z.B. schwärmte über die Verbindung von Christenheit und Europa (in: ›Die Christenheit oder Europa‹ niedergeschrieben 1799, Erstveröffentlichung 1826): »Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, so Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs… Wie heiter konnte jedermann sein irdisches Tagewerk vollbringen, da ihm durch diese heilige Menschen eine sichere Zukunft bereitet, und jeder Fehltritt durch sie vergeben, jede mißfarbige Stelle des Lebens durch sie ausgelöscht und geklärt wurde… Friede ging von ihnen aus. … Mit welcher Heiterkeit verließ man die schönen Versammlungen in den geheimnisvollen Kirchen, die mit ermunternden Bildern geschmückt, mit süßen Düften erfüllt, und von heiliger erhebender Musik belebt waren. In ihnen wurden die geweihten Reste ehemaliger gottesfürchtiger Menschen dankbar, in köstlichen Behältnissen aufbewahrt.« Damit zeichnete der Dichter ein Gegenbild zur rationalistischen Aufklärung und zur Gewalt der Französischen Revolution sowie deren imperialen Folgen. Für Novalis und Friedrich Schlegel, aber auch für die antinapoleonischen Freiheitskämpfer schälte sich das Abendland als politischer und kultureller Wertbegriff heraus, ebenso für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Oswald Spengler machte den Topos mit seiner Schrift ›Der Untergang des Abendlandes‹ (1918) endgültig populär.

Doch damit verband man fortan weniger politische Hoffnungen als Niedergangsängste, die bis heute anhalten. Mehrere Versuche im 20. Jahrhundert, mit dem Begriff Abendland alteuropäische und geistig-philosophische Werte politisch und lebensstilpraktisch wiederzubeleben, um eine kulturelle Identität zu erreichen, blieben immer nur halb erfolgreich. Die Väter z.B. der neuen kontinental-europäischen Nachkriegs-Ordnung (Konrad Adenauer, Robert Schumann und Alcide de Gasperi) hatten ohne Zweifel ein modernes Abendlandbild mit starker christlicher und spezifisch kultureller Einfärbung im Sinn, doch was im technokratischen EU-Rahmen daraus geworden ist, kann man täglich besichtigen: ein Kampf um Subventionen, bürokratisches Machtgebaren und unheilbare Bürgerferne. Novalis und Schlegel träumten von diesem Europa nicht. Die Politik hat sich ebenso vom Abendland verabschiedet (auch wenn rhetorisch-parteipolitisch in Sonntagsreden oft davon gesprochen wird) wie die gegenwärtige Geschichtswissenschaft, die seit einiger Zeit von Alt-Europa spricht, wenn sie das mittelalterliche und frühneuzeitliche Abendland im Blick hat.

Die Begriffsverblassung bzw. -verabschiedung ist so erstaunlich wie folgenreich. Kein anderer westlicher Topos hat eine größere historische Reichweite (bis ins griechische Altertum) und ist substanziell stärker angereichert als der Begriff Abendland. Er deckt die gesamte griechische und römische Antike sowie zwei Jahrtausende einer christlich geprägten Kultur ab, die an künstlerischem, philosophischem, wissenschaftlichem u.a. Reichtum nicht ihresgleichen in der Weltgeschichte hat. Darauf mit Blick auf andere Weltkulturen (China, Indien u.a.) zu verweisen, ist nicht überheblich, vielmehr handelt es sich um die Benennung eines unbestreitbaren Tatbestandes, an den zu erinnern heute so notwendig ist wie bei anderen kulturbedrohlichen Wendepunkten der Geschichte. Es gab sie über Jahrhunderte, die christliche Kunst – mit gewagter Naivität sei es gesagt. Der überkommene Reichtum legt davon beschämend Zeugnis ab. Es gab sie wirklich, diese unendliche reiche Geistesgeschichte, die zum Reservat einer kleinen Elite geschrumpft ist. Welche andere Weltkultur hat einen Musikbestand vergleichbar demjenigen im Abendland aufzuweisen? Es war die abendländische Kultur, aus der heraus die Menschenrechte entstanden. Nochmals: Darauf zu verweisen verstößt zwar gegen den universalistischen Korrektheits-Code und setzt sich dem Vorwurf der kulturellen Arroganz aus, doch diese (unberechtigten) Vorwürfe sind angesichts der abendländischen Selbstvergessenheit und ihren Folgen hinzunehmen.

Die größte Gefahr für das Abendland geht von ›Abendländern‹ selber aus. Geschichtslos torkeln die meisten von ihnen durch die Moderne und halten z.B. Don Scotus für einen spanischen Kognak. Die weiteren Gefahren sind unschwer auszumachen: die alles nivellierende Globalisierung, der islamische Welteroberungseifer, die Feigheit der Eliten, die unsägliche Unbedarftheit der meisten Medienmächtigen, die Geschichtsvergessenheit an Schulen und Universitäten sowie die zwischen alledem lavierende politisch Klasse, aus der sich Friedrich Merz dieser Tage resignierend verabschiedet hat. Abendland? Seriös nur noch als Tagungsthema an Akademien u.ä.

Was bleibt, gleicht der Maskerade eines kulturellen Topos, dessen Weite und Tiefe am Horizont verschwindet. Das jahrtausendealte Projekt Abendland verflüchtigt sich in Abendländereien, deren Flachheiten einer kulturellen Regression gleichkommen. Die großartigen ›Gemälde‹ des Geistes und der Kunst, die wunderbare Anmut bürgerlicher Selbstgewißheiten, auf welche die alten Athener, die Aufklärer und Romantiker stolz setzten, diese und andere abendländischen Kostbarkeiten sind zum Status elitärer Reflexe geschrumpft. Peitho, die bezaubernde Göttin Atticas, ist so unbekannt wie Kairos fern. Man schaut Fernsehen.
© WALTHARI® , ausgenommen die Originalzitate.– Aus: www.walthari.com

17. Oktober 2006

Schlafendes Universitätskapital – Dreieinhalb Vorschläge zur Erlangung von Exzellenzreife

Von Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

Seit Jahr und Tag setzen Unternehmensberater in ihren Motivationsseminaren ein paradox klingendes Modul ein: ›Wenn Siemens wüßte, was Siemens weiß.‹ Der Spruch, schon Jahrzehnte im Umlauf, soll auf eine unbemerkte Verschwendungspraxis in den Unternehmen hinweisen. Man schätzt, daß lediglich ein Drittel des über die Jahre angesammelten Humankapitals (HK) in den Produktionsverlauf und damit auf den Markt gelangt. Zwei Drittel des internen Wissens und Könnens, das sich bei den Mitarbeitern und Entscheidern angesammelt hat, bleiben demnach unausgeschöpft – ein schlafendes Kapital, das sich insbesondere bei älteren Arbeitnehmern und Managern angesammelt hat und das es zu wecken gilt. Doch die Bergung dieses riesigen Geistvermögens erweist sich als äußerst schwierig. Hat man es doch mit Menschen zu tun, die ihre Wissensschätze häufig nur taktisch preisgeben wollen oder gar nicht glauben können, was alles in ihnen steckt.

Um die Verpanzerungen zu knacken, verfallen Motivationsexperten auf die ausgefallensten Ideen. Mit Appellen und selbst mit gut dotierten BVW-Angeboten kommt man erfahrungsgemäß nicht weiter. Wieder einmal waren es die Amerikaner, die einen Schlüssel zum geheimen HK-Tresor fanden, mit dem sie seit den neunziger Jahren beste Erfolge erzielen. Es sollen Tierpsychologen gewesen sein, welche die frustrierten Unternehmensberater auf das konsequente und kreative Sozialverhalten von Affen hingewiesen haben. Die Art, wie z.B. eine Schimpansen-Gruppe ein Fehlverhalten (Stehlen von Bananen usw.) ahndet und wie sie mit emergenten Mustern auf neue Gefahrenlagen reagiert, hat die Beraterbranche begeistert. Unter ›Karriere und Management‹ im ›Handelsblatt‹ (HB) konnte man mehrere Berichte (zuletzt in Nr. 239 v. 9./10./11. Dezember 2005, S. 7) über den ertragreichen Transfer tierischen Gruppen- und Problemlösungsverhaltens lesen. Neben Primaten werden mittlerweile auch Delphine (wegen ihrer intelligenten Jagdstrategien) und sogar Hyänen (sie sind Meister der Resilienz) als Musterlieferanten in Motivationsseminaren herangezogen. Die Toro Campany, ein Rasenmäherproduzent aus Minnesota, meldete einen Transfergewinn von mehr als 75 Millionen Dollar. Nach Frank Siering »können Unternehmen… aus der wundersamen Welt der Tiere lernen« (HB, a.a.O.).

Nachdem nun die Hochschulpolitiker die Universitäten in Wettbewerbsunternehmen umgewandelt haben, erscheint es angebracht, wenn nicht höchste Zeit, auch die Motivationspraxis der Privatwirtschaft auf ihre universitäre Tauglichkeit zu überprüfen. Dabei können die Hohen Schulen gegenüber den Erwerbsbetrieben einen beträchtlichen Vorteil verbuchen: Mit den hauseigenen Biologen und Psychologen verfügen sie über Verhaltensexperten mit Stallgeruch und Dunkelkammerkenntnissen. Warum diese Spezialisten zur motivationalen Hebung des schlafenden Wissenschaftskapitals bisher nicht zum Zuge gekommen sind, ist ein Rätsel und zugleich ein gigantisches Ressourcenversäumnis, zu dessen Erforschung man schleunigst einen DFG-Antrag stellen sollte. Denn nicht zwei Drittel des Wissens und Könnens wie im privaten Gewerbe, sondern vermutlich vier Fünftel des universitären Geistkapitals ruht verborgen und damit ungenutzt in Köpfen und Kopfappendizes (Rechnern). Würde man auch nur die Hälfte dieses stillen Human- und Appendixkapitals heben können, verfügten die Universitäten über die dreifache FuE-Potenz im Vergleich zum jetzigen Stand.

Diese Erkenntnis müßte eigentlich zur schockartigen Selbstreferenz führen und den hauseigenen Motivationsspezialisten freie Bahn für rasche Beine machen, doch die Universitäten sind, wie angedeutet, sich selber das größte Rätsel. Sie gleichen gelegentlich dem Wunderland Laputa, dessen Merkwürdigkeiten Jonathan Swift im Jahre 1726 in ›Gulliver’s Travels‹ beschrieben hat. Die gelehrten, insbesondere mathematisch beschlagenen Laputaner erscheinen darin so sehr mit Scheinprojekten beschäftigt, daß sie ihre Liebe zu den Frauen nur in geometrischen Grundfiguren auszudrücken vermögen. Ich habe an anderer Stelle einige Rätselfäden aus dem Uni-Knäuel herauszuzupfen versucht (in: Die Universität als Lebensform und Reformopfer, Münchweiler 2002).

Die Universitäten hierzulande hätten in ihrer derzeitigen Verfassung nichts nötiger als einen Motivationsschub, um ihre versunkenen Wissenschaftsschätze ans Tageslicht befördern zu können. Nicht so sehr Geld und mehr Personal würden sie aus der Krise führen, sondern ein kräftigendes Entdeckungs- und Aufmunterungstraining. Denn das derzeitige universitäre Hauptleiden ist eine ausgewachsene Depression, in die sie eine verfehlte Hochschulpolitik gepreßt hat. Stärker noch als ihr materielles Leiden ist ein psychologisches. Dieses depressive Loch versperrt den Blick auf das hausintern versunkene Geistkapital und lähmt den Willen und die Kraft, den Schatz zu heben. Die Lage ist paradox: Während die Wirtschaft sich einem konjunkturellen Hoch nähert und die Beraterbranche boomt, hängen die Universitäten depressiv durch und versäumen einen wissenschaftlichen Aufschwung. Drei erprobte Vorschläge und ein halber (seine Halbheit wird später erklärt) könnten die Stimmungslage verbessern helfen und den schwierigen internen Schürfprozeß in Gang setzen.

Vorschlag 1: Methode Mittelstraß. Univ.-Prof. Dr. Jürgen Mittelstraß, ein hochangesehener Philosoph an der Universität Konstanz, hatte vor mehr als zehn Jahren die Herausgeberschaft der vierbändigen ›Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie‹ übernommen, ein gewaltiges Vorhaben, das er zusammen mit mehreren dutzend Mitautoren bravourös bewältigte (vgl. meine Rezension vom 14. Mai 2004 in diesem WALTHARI-Portal). Wie hat es der Philosoph geschafft, die große und disziplinverschiedene Schar über Jahre so zu motivieren, daß rund 4.000 Sach- und Personenartikel termingerecht und sachtief zustande kamen? In der ›Enzyklopädie‹ ist eine Artikelspur angelegt, die intern für Heiterkeit gesorgt und die Mitautoren emergent beflügelt haben muß. Die Spur beginnt mit dem harmlosen Stichwort ›Mittelstreß‹ unter Verweis auf ›Kompressor‹ (Bd. 2, S. 904). Schlägt man unter ›Kompressor‹ nach, landet man bei einer fast ganzseitigen Lachnummer, die so raffiniert geschrieben ist, daß wohl die meisten Leser erst bei den Literaturangaben stutzig werden (›F. Kabel; Der Mittelstreß und seine Folgen. Unter besonderer Berücksichtigung des Buchwesens, I, o. O., Druckort Konstanz‹ u.a.m.) Erst dann kommen wohl die meisten Leser dahinter, daß der Scherzartikel (in einem philosophischen Lexikon!) voller Pseudo-, Blind- und Selbstverweise ist und sogar mit der fiktiven Biographie eines J. J. Feinhals aufwartet, der sich auf G.W. Leibniz beruft – eine kabarettistische Camouflage im stocktrockenen Artikelwald, worin man als Leser, sobald die Sache durchschaut ist, die Mittelstreßler schallend achen hört. Die Methode Mittelstraß ist auch im ›Neuen Pauly‹ anzutreffen: Unter »Apopudobalia‹ erfährt der Leser von angeblichen Fußballspielern in der Antike, wiederum geschickt verpackt. Solche Lockerungsübungen sind heutzutage selten – im Gegensatz zu den zahlreichen Selbstaufspießungen seit der Renaissance. Einem David Ruhnken (1723-1798), Professor für Geschichte in Leiden, würde man seinen ›doctor umbraticus‹ sehr übelnehmen (in: ›Oratio…‹, 1761), allerdings nicht an angelsächsischen Hochschulen, wo der Geist satirefröhlicher Gelassenheit weit häufiger anzutreffen ist als in Kontinentaleuropa.

Vorschlag 2: Methode Jung- und Fremdholz.Ganz und gar nicht geistreich, aber dafür um so breitenwirksamer ist das motivationsstärkende Verfahren, akademische Frischlinge und hausfremde Feldautoritäten mit Aufgaben zu befrachten, die sie überfordern. Erstere betraut man z.B. mit der Leitung von Großinstituten, obschon dafür erfahrene Professoren zur Verfügung stehen. Oder man läßt sie im eigenen Namen Gutachten für laufende Berufungsverfahren erstellen. So einen akademischen ›Jungholzer‹ zappeln zu sehen kann ebenso erheiternd wirken wie Gefälligkeitsgutachten von anerkannten Feldautoritäten, die von insgeheim Eingeweihten mit gespielter Bewunderung in Listendebatten zitiert werden. Das verdeckte Hantieren mit ›Jung- und Fremdhölzern‹ sorgt für eine anhaltende heitere Grundstimmung im Hause – der ideale Boden für Tiefenbohrungen. In alten Universitäten waren solche zynischen Kapital-Entdeckungsvorspiele deshalb nicht vonnöten, weil mindestens drei von zehn Professoren kauzig genug waren, und zwar von Natur aus, um das tägliche Schmunzelquantum unfreiwillig abzuliefern. So weiß Johann Burckhardt Mencke in seinem Werk ›Charlatanerie oder Marktschreyerey‹ (1727) von lachsalvenprovozierenden Fällen der pathologischen Bibliomania zu berichten. Seit ihrer Gründung Mitte des 14.Jh. herrschte in deutschen Universitäten immer auch ein Schelmenbetrieb, wofür es gewichtige Gründe gab, wie neuere Lern-, Motivations- und Schürfpsychologen nachträglich zu bestätigen wissen. Man lese dazu das Eingangskapitel (›Büchernarr‹) in Sebastian Brants ›Das Narrenschiff‹ von 1494. In neueren Universitäten sind Gelehrtenkäuze längst durch ›Jung- und Fremdhölzer‹ ersetzt worden. Diese nicht unbedenkliche Substitution widerspricht, wie leicht einzusehen, in gewisser Weise dem Senioritäts- und Seriositätsprinzip, ist aber sehr erfolgreich.

Vorschlag 3: Metakritische Interdisziplinarität. Bei diesem Verfahren kommt endlich der eingangs geschilderte Tier-Mensch-Verhaltenstransfer zum Zuge. Die Sache verhält sich so: Drittmittel sind zum wichtigen Evaluationskriterium geworden. Worauf es dabei vorzugsweise ankommt, ist die Kunst des richtigen Beantragens, nicht die Kunst, bewiesene Wissenschaftsqualitäten vorzustellen. Außenstehende wollen partout nicht begreifen, daß selbst hausintern Forschungsergebnisse für den Evaluationserfolg weniger zählen als die angeworbenen Summen, die für eine mögliche, aber nicht gesicherte Forschungsqualität bereitgestellt werden. Der Einwerbeerfolg hängt also einzig von der formalen Antragsqualität ab, weitgehend abgekoppelt von früheren Arbeitsergebnissen. So wurde auch bei den jüngsten Exzellenz-Entscheidungen verfahren, bei denen allein Zukunftsprojekte prämiert wurden, d.h. lauter geschickt formulierte Pläne. Mag auch der Philosoph Martin Scheel noch so eloquent für die geisteswissenschaftliche Einzelforschung plädieren, Projekte ohne interdisziplinäre Tief- und Weitverwurzelungen haben keinerlei Bewilligungschance. Prämiert wurden denn auch bei dem Exzellenzwettbewerb 2006 zwei Technische Universitäten (unter den drei Siegern). Um nicht für alle Zeiten unter den Verlierern zu bleiben, bietet sich insbesondere für mittlere und kleinere Hochschulen die Methode der metakritschen Interdisziplinarität an. Mithilfe diese Verfahrens wird ein dreistufiger Prozeß in Gang gesetzt. Zuerst muß, natürlich interdisziplinär, ein Bewußtsein für das hausintern versunkene Geistkapital hergestellt werden. Dazu sind sämtliche ruhestandsnahen Professoren in ein Konklave zu locken, um sie geistkapitalistisch ›abzumelken‹ – ein gewiß harziges Unterfangen, aber…
© WALTHARI®. Aus: www.walthari.com

20. August 2006

Versagen der Professorenschaft

Warum befreien sich die Treuhänder der grundgesetzlich gewährten Forschungs- und Lehrfreiheit nicht aus der Knechtschaft der bürokratischen Hochschulpolitik?

In den Jahren zwischen 1900 und 1903 brachte Gustav Klimt im Neubau der Universität Wien (an der Ringstraße) drei Deckengemälde an, die den ehrwürdigen Disziplinen Philosophie, Medizin und Jurisprudenz gewidmet waren. Eine Findungskommission hatte sich Jahre zuvor programmatisch für »nicht realistische, sondern ideale Compositionen« entschieden, ehe der offizielle Auftrag erging. Klimt hielt sich nur an den ersten Teil der Vorgabe (»nicht realistisch«). In künstlerischer Freiheit deutete er »ideale Compositionen« impressionistisch so um, als sei in den drei Traditionsdisziplinen alles fluid geworden. Auf dem Fakultätsbild der Medizin z.B. scheint ein Menschenstrom durch Raum und Zeit zu fließen, vorbei an einer nackten Priesterin (Hygieia), die das Leben und den Tod repräsentiert. Den Universitätsjuristen präsentierte Klimt gar eine kopfgebeugte und gefesselte Opfergestalt, umrankt von einem gewaltigen Polypen und bewacht von drei »Quälweibern« (L. Hevesi). Die provokative Deutungsfülle der klimtschen Wissenschaftsschau war so gewaltig, daß der daraus entstandene sog. Wiener Bilderstreit vierzehn Jahre anhielt. Eingemischt hatten sich auch, sofort nach der Bilderfreigabe, 87 Professoren, die sich in einer Petition an das ›Ministerium für Cultus und Unterricht‹ wandten, unterstützt vom Universitätsrektor, der die geheiligte Philosophie »als nebelhaftes Gebilde dargestellt« sah. Die Wiener Obrigkeit verhielt sich, wie es seit je den Gepflogenheiten von Wissenschaftsverwaltung und -politik entspricht: Sie ließ den aufgebrachten Universitätslehrern nicht einmal eine Eingangsbestätigung zukommen, wohl wissend, daß man diese Herrschaften folgenlos übergehen kann, solange eine Professorenhand über mehr als drei Bücher verfügt. Professorale Berufszufriedenheit war im Machtkalkül der Politiker und Verwalter immer schon ein Posten mit minimaler Störwahrscheinlichkeit.

Sieht man davon ab, daß die Wiener Gelehrtenschar sich epochenspezifisch ins kunsthistorische Abseits manövriert hat (Hybridisierung wurde zu Signatur der Avantgarde, die epigonal noch anhält); mit ihrem Protest gegen den ›Heraklitismus‹ stemmte sie sich gegen einen heraufziehenden Trend weit über die Kunst und Wissenschaft hinaus und mit ihrem Widerstandsmut stellte sie sich in die Tradition des ›profiteor‹ (ich sage frei heraus), der öffentlichen Bekenner. Immerhin zeigte sie dem allmächtigen Ministerium die Stirn. Diesen Schritt wagen heutzutage nur noch wenige, obschon nicht allein Fakultätsbilder symbolisch zur Debatte stehen, sondern das Profil der Universität und die Substanz der Freiheit von Forschung und Lehre. Infrage steht nicht mehr, ob Professoren angesichts der fortschreitenden Entbeinungen der Wissenschaft versagen, sondern warum. Und weiterhin: Wann wird der Zeitpunkt erreicht sein, da der Niedergang der Universitäten sich konkursnah so zugespitzt hat, daß Hochschullehrer nicht anders mehr können als die ebenfalls zögernde Ärzteschaft unserer Tage.

Wer hätte vor noch zwei Jahren auch nur zu denken gewagt, daß Mediziner in Tausendschaften auf die Straße gehen, um sich der gesundheitspolitischen Einschnürungen ihrer Berufsfreiheit zu erwehren und ihre Honorierung einer öffentlichen Debatte auszusetzen? Daß es zwangsläufig zu Professorenprotesten kommen wird, ergibt sich aus dem Trend der zunehmenden Entprofessoralisierung, die geradewegs auf einen oberstudienrätlichen Status zuläuft: Der Vollzug von Lehrplänen steht vor der Forschung im Freiheitsgrad des Grundgesetzes. Selbst die ängstlichsten unter den Medizinern, die Anästhesisten, sahen sich zum Mitprotestieren gezwungen, in weißen Kitteln und mit selbstbeschrifteten Plakaten. ›Mediziner proletarisieren sich nicht‹, dieses Motto hielt die Angehörigen des wohl ältesten Spezialberufes der Menschheit im gesellschaftlichen Ruheraum, den der Parteienstaat gesetzgeberisch und bürokratisch eingezäunt hat. Die von ihrem Berufsethos geprägten Mediziner wollten lange nicht begreifen, daß in einem medien- und parteiengesteuerten System der sog. Handlungsbedarf nicht aufgrund von Einsicht entsteht, sondern einzig auf Druck. Damit waren sie, wenn auch spät, erfolgreich.

Diese Erkenntnis steht der Professorenschaft, die doch aufs Denken spezialisiert ist, erst noch bevor. Auch Hochschullehrer werden begreifen müssen, daß der Niedergang der Universität und ihres Berufsstandes nicht durch Einsicht der politischen Klasse abgewendet werden kann. Wie die Mediziner werden auch sie aus dem Gehäuse vornehmer Zurückhaltung irgendwann heraustreten müssen, um profanen politischen Druck zu erzeugen, ohne den nun mal in einem Parteienstaat kein Handlungsbedarf zustande kommt. Doch dieser Protestmut wächst in der Professorenschaft weit langsamer als bei den Medizinern. Denn fakultätsbreite Universitäten sind als Forschungs- und Lehranstalten komplexer angelegt als Kliniken, auch komplexer als Universitätskliniken, die bekanntlich teilweise geschlossen streiken konnten, dank eines überschaubaren Berufsfeldes. Universitätsbreit ist diese Voraussetzung nicht gegeben, zu verschieden sind die Arbeitsfelder und das Selbstverständnis unter Natur- und Geisteswissenschaftlern – eine exzellente Ruhegarantie. Während ganze Universitätskliniken in den Ausstand traten, ist es kaum vorstellbar, daß die gesamte Professorenschaft einer Universität geschlossen Widerstand leistet. Das liegt ebensosehr am extrem komplexen Organisationsnetz als am eingefahrenen Berufsverständnis und an der Neigung, sich nicht querzustellen, um Sanktionen zu vermeiden.

Ehe darauf kurz eingegangen wird, soll an den gegenwärtigen Zustand der Hohen Schulen erinnert werden. Ist deren Lage wirklich so schlimm, daß über Druckszenarien nachgedacht werden muß? Unter den zahlreichen Lageberichten (darunter auch meine Abhandlung ›Die Universität als Lebensform und Reformopfer‹, 2002) wähle ich einen aktuellen Zustandsbericht. Die Literaturwissenschaftlerin Ursula Link-Heer fragte am 7. August 2006 in der FAZ (S. 36): ›Warum machen alle mit?‹ Der Untertitel lautete: ›Nach Diktat reformiert: Wir Bertelsmann-Professoren‹. Anklagend schon die Einleitung: »Wie kommt es, daß die Degradierung der Fachvertreter so weit voranschreiten konnte, daß von dieser Selbständigkeit und Verantwortung für ein Fach, eine Disziplin nichts mehr übriggeblieben ist? Daß diese selbständigen Fachverantwortlichen sich unaufhörlichen Bewerbungen, Evaluierungen und Akkreditierungen unterwerfen, die im übrigen nicht von jenen fachfremden Agenturen der als Qualitätsmanagement auftretenden Kontrolleure unabhängig von ›uns‹ durchgeführt werden, sondern uns vielmehr kontinuierliche und immens voluminöse Selbstberichte abverlangen? Wie kommt es also, daß zwar alle Professoren stöhnen, doch zugleich alle mitmachen?« (Hervorhebung: E.D.) Die Professoren, so Rink-Heer weiter, haben versagt, und zwar »aus begreiflicher (?) Scheu«. Seit zehn Jahren finde eine »schleichende Universitätsreform« statt, die auf eine »Dualisierung von Forschung und Lehre« ziele. »Also auf das genaue Gegenteil der überaus erfolgreichen Idee der Universität als eines Orts der Einheit von Forschung und Lehre im Dialog der Generationen, völlig unabhängig davon, welchen Beruf die Absolventen je ergreifen würden. Diese Implementierung einer radikal neuen universitären Normalität kann nicht ohne Gewalt vonstatten gehen. Doch erscheint es dem einzelnen Professor völlig inopportun, sich die Blöße zu geben, daß man bei diesem Prozeß nicht auf die Höhe des CHE sein könnte, des ›Centrums für Hochschulentwicklung, Gütersloh‹, ins Leben gerufen vom global operierenden Bertelsmann-Konzern. Hier wirken die Vordenker all dessen, was nun auch die deutsche Universität in Trümmer legt. Unmöglich, am CHE vorbeizudenken.« (Hervorhebungen: E.D.) Beklagt wird die Spaltung in Exzellenz- und Normaluniversitäten. Damit sind zunächst zwei Verursacher des Trümmerfeldes ausgemacht: der Gesetzgeber und das CHE. Doch dann nennt die Autorin eine »dritte… Kategorie«, die ans Eingemachte des Berufsstandes geht: »die professoralen Bürokraten. Und deren Avantgarde ist bereits jetzt fleißig dabei, ihre Kollegen nach Töpfchen und Kröpfchen aufzuteilen und der zweiten Kategorie durch bürokratisches Überrollen ein De-facto-Forschungsverbot aufzuerlegen.«

Wer kennt es aus langer Universitätserfahrung nicht, das Phänomen, daß ehemals nette, aber amtsehrgeizige Kollegen sich flugs in bürokratische Vollstrecker ministerieller Vorgaben verwandeln und sich dem Druck von oben widerstandslos beugen? Kollegin Link-Heer berichtet anschaulich vom Unsinn, der in Modulhandbüchern steht, die siebenhundert Seiten umfassen können und anhand deren Lehre, Studium und Prüfungen effizient durchgepeitscht werden. Und dazu die Unsäglichkeiten der Akkreditierungen und Modulisierungen: mit Leistungspunkten und -scheinen, mit Modulbögen und Gegenzeichnung von Modulbeauftragten, mit Mentoring-Zertifikaten usw. Die »Pastiche-Kultur… mit Nähe zur Parodie« ist offenbar so recht nach dem Geschmack der Hochschulgewaltigen drinnen und draußen.

In der Tat: Warum wehren sich die Professoren nicht gegen bürokratische Unsinnigkeiten, die ihre Freiheit von Forschung und Lehre aushöhlen und den altehrwürdigen Beruf des Universitätslehrers zum Schrumpfmodul eines vielhundertjährigen Standes werden lassen? Ist es zu gewagt zu vermuten, daß fehlender Widerstandswille zum wissenschaftsverliebten Selbstbild allzu vieler Professoren rechnet? Deutlicher und provokanter gefragt: Neigen Hochschullehrer berufsbedingt zum Erdulden und Wegsehen bis zur Selbstpreisgabe? Stiftet sie ihr Beruf, der auf interne Schlüsselqualifikationen ausgelegt ist, dazu an, nach außen sich zu drücken, solange drei Bücher und ein Rechner vorhanden sind?

Bereits Sallust hatte das Obviam ire (widerstandsmutig sein) zur steten Tugend jeglicher Freiheitswahrung erklärt. Die so fein sich zurückhaltende Professorenschaft wird bald erkennen, daß auf politische Einsicht kein sicheres Wissenschaftsfundament zu bauen ist. Wenn die Universität nicht ganz ›vor die Hunde gehen‹ soll, was sonst als Proteste ihrer berufenen Hauptträger könnte sie retten? Proteste, welche die erwähnten obrigkeitlichen Gepflogenheiten wirksam verunsichern. Mittel und Wege jenseits des Streiks gibt es zuhauf.
©Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate. Aus: www.walthari.com

25. Juni 2005

Wissenschaftstechnische Erbsenzählerei.

Eine deutsche Wirtschaftszeitung hat jüngst zusammen mit einer Wissenschaftsdatenbank die angeblich weltbesten Professoren der VWL ermittelt. Ergebnis: kein deutscher Hochschullehrer ist unter den ersten hundert Plätzen zu finden. Süffisant: Auf der hundertplätzigen Rangliste für Deutschland findet sich kein Mitglied des Sachverständigenrats. An der Spitze der Rankings der 51 deutschen VWL-Fakultäten rangieren München (LMU), Berlin (HU), Mannheim und Bonn: die Uni Mainz befindet sich nicht unter den ersten fünfundzwanzig. Die Güte dieser Sortiererei kann man nur richtig beurteilen, wenn man auf die Methode und die Maßstäbe der Bewertung schaut. Und da stößt man auf eine Erbsenzählerei, die alle Rankings so fragwürdig machen. Hauptkriterium ist die Zitatenhäufigkeit in 176 ökonomischen Zeitschriften. Da die Spieltheorie derzeit die modische Spezialdisziplin der meisten Ökonomen ist, werden Spieltheoretiker naturgemäß am meisten zitiert, auch dann, wenn auf diese Mode von Kollegen kritisch Bezug genommen wird, ein Erkenntnisgewinn (das Gütemaß hinter den Zitaten) also fragwürdig ist. Ob ein Forschungsansatz real wirkungsmächtig wird, erweist erst die Zukunft, nicht der Zitatenspiegel. Ökonomische Erfolge sind in der Realität und nicht in Büchern und papierenen Ranglisten nachzuweisen. Wie leicht die Objektivität von Zitationshäufigkeiten zu unterlaufen ist, zeigt die Praxis von Beziehungskartellen (zitierst du mich, zitiere ich dich).

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer. Aus: www.walthari.com

Studiengebühren 1. Was vor Jahren in ›Die Universität als Lebensform und Reformopfer‹ (2002, vgl. die Buchanzeige unter dem Fenster Sachbücher in diesem WALTHARI-Portal) vorausgesagt wurde, tritt nach und nach ein: Die Einführung von Studiengebühren in Deutschland ist unaufhaltsam, weil aus systematischen und finanzpolitischen Gründen zwingend. Wider alle Vernunft verbietet das neue Hochschulgesetz in Rheinland-Pfalz Studiengebühren, wobei die ›Marktpartei‹ FDP in der Mainzer Regierungskoalition das Konzept mitträgt und die FDP gleichzeitig anderswo (NRW) die gegenteilige Position vertritt. Es liegen bisher zwei Studienfinanzierungsmodelle vor. Von der KfW: bis zu zehn Semestern maximal 650,- Euro monatlich, rückzahlbar im Zeitraum bis zu 25 Jahren. Zinssatz: 5,0 bis 5,5 %. Von der Deutschen Bank: bis zu 800,- Euro monatlich über fünf Studienjahre, rückzahlbar im Zeitraum bis zu zwölf Jahren. Zinssatz: zwischen 5,9 und 9,9 %

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer. Aus: www.walthari.com

Studiengebühren 2. »Angesichts der Erfahrungen im Ausland ist die seit Jahrzehnten anhaltende Diskussion um die (Wieder-)Einführung von Studiengebühren eine politische Farce. Sagen wir es rundheraus: Den Verweigerern geht es nicht um angebliche soziale Zugangserschwernisse, sie denken zuvörderst an Wählerstimmen und an die Beibehaltung der Massenuniversität. Würden Studiengebühren eingeführt, hätte dies eine reinigende Wirkung an den Universitäten, wie sie von keinem anderen Reforminstrument zu bewerkstelligen wäre. Eines der wertvollsten Güter der ansonsten ressourcenarmen deutschen Volkswirtschaft hätte endlich einen Preis und damit einen Wertschätzungsindikator, der zum effizienten Umgang zwänge. Dieses Gut hat einen Namen: wissenschaftliches Humankapital. Solange dieses Gut nahezu kostenlos angeboten werden, sind auf der Angebots- wie auf der Nachfrageseite der Verschwendung und Qualitätsminderung Tür und Tor geöffnet. Mit der Einführung von Preisen ändert sich bekanntlich die Mentalität von Marktteilnehmern schlagartig: Man lernt die Wertschöpfung schätzen und geht sorgfältiger mit ihr um. Alle Versuche, diesen strengen und kostengünstigen Austauschprozeß durch Scheinlösungen (Punktkonten u.ä.) zu umgehen, heilen nicht die ›volkshochschulischen‹ Verhältnisse an den Universitäten. Es ist schlicht unaufrichtig zu behaupten, Studiengebühren seien sozial nicht zu verantworten, weil sie angeblich die Ausschöpfung von stillen Humankapitalreserven einkommensschwacher Bevölkerungsschichten verhinderten. Es gibt intelligente Abfederungsinstrumente, die allein deshalb nicht zur Anwendung kommen, weil sie ein Heer von Regulatoren und ›Reformern‹ arbeitslos machten. Lösungsvorschläge in Fülle liegen einsatzbereit vor – und müssen hier nicht referiert werden (vgl. z.B. den Zwischentext 8: Radikalkur. Schafft die staatlichen Universitäten ab). Wer zahlen muß, studiert aus Eigeninteresse kürzer, sucht sich die besten Hochschulen und Professoren aus, erzeugt also automatisch Wettbewerb unter den Anbietern, die ihrerseits endlich freie Hand hätten, sich ›ihre‹ Studenten selber auszuwählen. Sowohl die Angebots- als auch die Nachfragequalität würde durch Studiengebühren erhöht. Unter den zahlreichen anderen Wirkungen sei nur noch diese, beileibe nicht unwichtigste genannt: Der Subventionsmentalität, die man seit Jahrzehnten auch bei ganzen Studentengenerationen gezüchtet hat und fraglos eine Hauptursache für die allseits beklagte Wertedesorientierung ist, wäre der Boden entzogen.«

Aus: ›Die Universität als Lebensform und Reformopfer. Eine Bilanz nach zweiunddreißig Lehrstuhljahren‹, Münchweiler 2002, S. 131 f.)

Fragwürdige Bachelor-Master-Zwangseinführung.Nach einer kritischen Sichtung des sog. Bologna-Prozesses, der den Hochschulen obrigkeitlich aufgezwungen wird, kommt Felix Grigat, verantwortlicher Redakteur des Hochschullehrerorgans ›Forschung & Lehre‹, zu folgenden Schlußbemerkungen (in Heft 6/2005, S. 293): »Was bedeutet es, wenn das größte hochschulpolitische Reformwerk der letzten Jahrzehnte den selbst gesetzten Zielen nicht gerecht wird? Was bedeutet es, wenn seitens der Protagonisten der Reform dennoch immer wieder deren ›Unumkehrbarkeit‹ behauptet wird? Wie kann man in einem Atemzug von der Wissensgesellschaft sprechen und die Qualität der Ausbildung senken, ›Profilschärfung‹, ja sogar Eliteuniversitäten propagieren und das Profil von Berufsakademien, Fachhochschulen und Universitäten nivellieren? Was bedeutet der Widerspruch von ausgefeilten Modellen für Kreditpunkte bei gleichzeitig fehlender Logik des gesamten Systems? Wer trägt die Verantwortung für die Folgen der Reform? Fragen, auf die man gerne Antworten hätte.«

Angriff auf die Fundamente der Universität. »Dieses Verfahren – Vorlauf der Forschung vor der administrativen Planung und Steuerung – gilt der Universität der Zukunft, wie sie sich abzeichnet, als gänzlich veraltet, ineffizient und nicht mehr konkurrenzfähig auf dem globalen Wissenschaftsmarkt. Gesamtplanung und Detailsteuerung sind die neuen Richtwerte, auf die hin die Universität derzeit umgebaut wird. Es ist ein Angriff auf ihre Fundamente. Denn die Universität der Zukunft wird als Stätte der Forschung und der Ausbildung anhand von Maßstäben gemessen, bewertet und finanziert, die nicht mehr vorrangig von den Forschern bestimmt werden. Politische Institutionen bestimmen in viel höherem Maß als bisher bei Entscheidungen darüber mit, welche Forschungsbereiche ausgebaut werden sollen und welche nicht sowie nach welchen Kriterien die Forschungs- und Lehrleistungen bewertet werden«

(Univ.-Prof. Dr. D. Langewiesche, Tübingen, in: FAZ Nr. 143/05, S. 7).

16. Juli 2005

Verschwendung, Korruption, Betrug

Deutschland im moralischen Abwärtstrend

Von Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer.

Nein, schlechtreden muß man es nicht erst, dieses ehemals korruptionsimmune Land, als Steuer-, Versicherungs- und Sozialbetrug noch keine Kavaliersdelikte waren und öffentliche Verschwendung von Steuergeldern noch keine Hundertschaften von Rechnungshof-Prüfern in Atem hielten. Der moralische Gesellschaftszustand und die politische Sauberkeit sind nämlich schlechter, als man öffentlich zuzugeben bereit ist. Dafür gibt es objektive Belege zuhauf. Auf dem Korruptionsindex der Transparency International z.B. nahm Deutschland im Jahre 2002 nur den 18. Rang ein, weit hinter Finnland, Schweden, Kanada u.a. Nicht allein Unternehmen und Haushalte, auch und gerade öffentliche Bürokratien sehen sich zunehmend dem Korruptionsvirus ausgesetzt. Wie sehr trübe Gesinnungen alle Schichten der Gesellschaft erfaßt haben, belegt der Spannbogen vom Wohngeldbetrug bis ›hinauf‹ zur Politiker-Korruption (mittels Nebeneinkommen aus Unternehmenskassen ohne Arbeitseinsatz) und bis zur Veruntreuungen durch Manager. Die Aufdeckungsberichte der Medien und Rechnungshöfe sind Legion. Man kann es aber auch an den wachsenden Spezialabteilungen in der Justiz und Verwaltung zur Bekämpfung der ›moraldefekten Epidemie‹ ablesen.

Wie konnte es dazu kommen? Wichtiger noch die Frage: Gibt es Abhilfe? Doch ehe auf beide Fragen zu antworten versucht wird, muß auf den materiellen Schaden hingewiesen werden. In den Fällen von öffentlicher Verschwendung beziffern die Rechnungshöfe den Schaden auf dreißig Milliarden Euro jährlich. Dabei decken die Prüfer nur einen Bruchteil der Verschwendungsfälle auf. Im privatwirtschaftlichen Bereich sind die Summen nicht abschätzbar, weil nicht einmal alle aufgedeckten Fälle bekannt werden (aus Angst vor Rufschäden). Nach Schätzungen der Weltbank werden weltweit pro Jahr rund tausend Milliarden Dollar an Bestechungsgeldern abgezweigt (HB Nr. 6/05, S. 2). Viel zu wenig bekannt sind die sog. Opportunitätsschäden. Damit bezeichnet man Verluste, die durch Kosten- und Preisverfälschungen sowie Transaktionsbehinderungen entstehen. Ein Bauunternehmer z.B., der den zuständigen Stadtdezernenten besticht (etwa mit Einzahlungen auf ein Konto in der Schweiz), um einen Auftrag zu ergattern, verfälscht den Baupreis (er ist zu hoch), behindert aber gleichzeitig den Wettbewerb und damit mögliche Rationalisierungsgewinne durch technischen Fortschritt. Der zuletzt genannte, entgangene ›Gewinn‹ ist zwar schwer zu beziffern, er schadet aber der Allgemeinheit beträchtlich, denn technischer Fortschritt durch Wettbewerb hätte sich auch auf andere Fälle positiv ausgewirkt. Gänzlich unbezifferbar ist der immaterielle Schaden, der als ethischer Defekt aller Korruption und Verschwendung sowie allem Betrug innewohnt und sich krakenhaft fortpflanzt.

Gibt es Abhilfe? Der ersten, weil schwersten Frage weichen wir vorläufig noch aus. Als gängige Bekämpfungsmittel werden empfohlen: Kontrolle im Verein mit strafrechtlichen Bestimmungen; Selbstverpflichtungen der Wirtschaft; Image- und Auftragsindexierung korrupter Firmen; Personalrotation (in Bauämtern u.a.); positive Sanktionierung (›moralische‹ Gütesiegel). Diese Mittel haben Bestechung und Betrug sicherlich weniger steil anwachsen lassen, aber deren Anwachsen keineswegs verhindern können. Wie auch, wenn selbst justiziable Schadensnachweise durch Rechnungshöfe für die Verschwendungsverantwortlichen ohne Folgen bleiben! Welcher Verteidigungsminister ist zurückgetreten oder gar haftbar gemacht worden, nachdem seinem Ressort schwere Schäden nachgewiesen worden sind?

Aber auch bei strafbewehrten Fällen konnten keine nachhaltigen wirkungsbreiten Erfolge erzielt werden. Das belegen eindrucksvoll die ›nachwachsenden‹ Straftatbestände sowohl in allen Wirtschaftsbereichen wie auch in der öffentlichen Verwaltung und selbst in der Legislative (Stimmenkauf u.a.). Über das Krebsgeschwür der Schutzgelderpressung im Bereich Gaststätten, Diskotheken usw. geben Branchenberichte (z.B. in AHGZ Nr. 25/2000, S. 3) niederschmetternde Auskünfte. Wie weit sich die organisierte Kriminalität (bei Drogen, Geldwäsche, Sex, Diamanten u.a.) vorgewagt hat, kann man aus den Medien und Kriminalitätsstatistiken erfahren (z.B. in der NZZ Nr. 60/02, S. 29). Obschon Schmiergelder im Auslandsgeschäft steuerlich nicht mehr geltend gemacht werden können, laufen diese ›Geschäfte‹ dennoch auf Hochtouren (HB Nr. 135/01, S. 12 u.a.). Kaum ein Monat vergeht, ohne größeren Aufdeckungsfall bei Kredit- und Börsengeschäften. Die Verschwendung bei der beliebten Mischfinanzierung schätzt der Bund der Steuerzahler auf dreißig Milliarden Euro jährlich (FAZ Nr. 227/04, S. 14). Offizielle Arbeitslosenzahlen können ebenso gefälscht sein (vgl. den ›Nürnberger Skandal‹) wie Auflagenstatistiken der IVW und ausländische Familiendokumente zur Erschleichung von Unterhaltszahlungen (HB Nr. 54/05, S. 6 u.v.a.). Selbst Kunst- und Literaturpreise sind bisweilen nicht mehr ohne betrügerische Manipulationen zu haben (so beim ›Premio Planeta‹ 1997), von den anhaltenden Skandalen im Sport gar nicht zu reden. Nüchterne Beobachter stellen daher fest: 1. Kein gesellschaftlicher und staatlicher Bereich (mit Ausnahme der Justiz) ist mehr korruptionsfrei. 2. Gegen den betrügerischen Fraß scheint kein Kraut gewachsen.

Wie nur konnte es auch in Deutschland soweit kommen? Man kann sich die Antwort mit folgenden Erklärungen einfach machen:
Erklärung 1: Korruption ist ein weltweites Phänomen, dem sich Deutschland (als weltmeisterliche Reise- und Exportnation) nicht entziehen könne. Warum aber haben sich andere Länder (Schweden u.a.) weit weniger infizieren lassen?
Erklärung 2: Die wohlstands- und sozialstaatlich verwöhnten Deutschen sind moralunempfindlicher geworden, seit es ihnen schlechter geht. Und weil von der öffentlichen Moral (in Politik, Medien und Spitzenwirtschaft) kaum noch Vorbildfunktionen ausgehen. Warum jedoch sind die Verhältnisse in anderen Wohlfahrtsstaaten (Schweiz u.a.) weniger schlimm eingerissen?
Erklärung 3: Deutschland ist nach Jahrzehnten schuldneurotischen Identitätsverlustes orientierungsloser und anfälliger geworden für ›bananenrepublikanische‹ Praktiken. Dagegen spricht die hohe öffentliche Resonanz, die von Wächtermedien ausgeht, auch wenn in Rechnung zu stellen ist, daß Skandalaufdeckungen ein journalistisches Geschäft sind.

In allen drei Erklärungsversuchen steckt ein Stück Wahrheit, sie reichen aber nicht bis in den Kernbereich des moralischen Verfalls in Gesellschaft und Staat. Sowenig bürokratische und juristische Bekämpfungsmechanismen dem weltweiten Übel beizukommen vermögen, so gewiß ist, daß mit unerbittlicher Transparenz die besten Anfangserfolge zu erzielen sind. Korruption und Betrug scheuen nämlich das Licht der Öffentlichkeit mehr als härteste Bestrafungen. Anstatt nur begangene Straftaten aufzuspüren, sollten daher die Arbeitsgruppen der OECD, Weltbank, EU, UNO usw. stärker auf vorbeugende Transparenzgebote setzen. Nicht die Schweiz, nein, London ist der beliebteste Platz für Geldwäscher, weil eine dortige Aufsichtsbehörde zur Überprüfung und Offenlegung von Praktiken dubioser Mantelgesellschaften fehlt. Die deutschen Parteispendenaffären und Frankreichs Elf-Skandal wären bei geltenden Offenlegungspflichten nicht möglich gewesen. Ähnliches gilt für die Provisionsskandale in der Ärzteschaft, im Kreditwesen und beim Programm ›Öl gegen Lebensmittel‹ der UN.

Ebenfalls (nur) hilfreich ist die Ausdünnung von Gesetzen und Bürokratien. Der Umsatzsteuerbetrug durch illegale Karussellgeschäfte osteuropäischer Banden kostete den deutschen Fiskus 17,6 Mrd. Euro allein im Jahre 2003. Das liegt am bürokratischen Gestrüpp der EU.
Neben Transparenz und Entflechtung zählt die weitgehende Abschaffung von Fördertöpfen zu den wirksamsten Bekämpfungsmaßnahmen: Aus tausendfacher Erfahrung wissen die Fahnder: Korruption und Betrug sind unabwendbare Schatten von Transfergeldern. Ob im Entwicklungs- oder Sozialbereich, ob auf EU- oder UN-Ebene: wo sog. Ausgleichs- und Hilfsgelder in Massen fließen, wird zweckfremd abgezweigt. Die Erfahrungswerte liegen bei zehn Prozent aufwärts. Es ist zynisch zu behaupten, die sog. Korruptionsquote sei der Preis für menschliche Solidarität. Es bleibt nämlich in aller Regel nicht bei dem negativen Effekt der Zweckentfremdung; die Zielverfehlungen erstrecken sich nach und nach auch auf den gesamten Übertragungsprozeß. Wer daran zweifelt, sollte sich die Mittelvergeudung in Sozialstaaten oder die Ergebnisse jahrzehntelanger Hilfsprogramme in Afrika anschauen.

Wenn trotz der genannten Bekämpfungsmaßnahmen wenig Aussicht besteht, Korruption, Betrug und Verschwendung auf finnländisches Niveau zurückzudrängen (Finnland nimmt den besten Platz auf dem Korruptionsindex ein), so liegt das an dem tiefgreifenden Gesinnungs- und Wertewandel. Moralische Defizite in Gesellschaft und Staat sind die eigentlichen Ursachen. Bekanntlich ist auf dieser Ebene mit mechanischen Programmen und bloßen Appellen wenig auszurichten. Auch auf dem Felde der Erziehung wird man keinen Erfolg haben, solange das gesellschaftliche und politische Umfeld alle pädagogischen Bemühungen konterkariert. So beißt sich die Katze in den Schwanz. Es ist daher nüchterner Realismus, kein Pessimismus, wenn man unterstellt, daß Besserungen kaum zu erwarten sind. Die Fakten sprechen für das Gegenteil.

© WALTHARI® – Aus: www.walthari.com

22. Februar 2005

Die Universität als Lebensform und Reformopfer

Fortsetzung der Textauszüge aus der gleichnamigen Veröffentlichung

(Münchweiler 2002; Näheres dazu: vgl. www.walthari.com, Fenster Sachbücher/ SB1)

Akademischer Klein-Bürger. Niemand in Wirtschaft und Politik, in Verbänden und Verwaltungen, der herausragende Spezialqualifikationen vorweisen kann, würde sich das bieten lassen: als C3-Professor gerade mal so viel zu verdienen wie ein Studiendirektor an Schulen oder ein Stabsassistent auf der dritten Managementebene. Promovierte Universitätsangehörige geben sich klaglos mit Studienratsgehältern zufrieden, auch wenn sie beachtliche Forschungsleistungen vorweisen können. Im Vergleich zu freiwirtschaftlichen Honorierungen nehmen sich diese akademischen Existenzen wie zaghafte Klein-Bürger aus: gleiches Alter und sogar bessere Ausbildung, doch welche Unterschiede im Selbst- und Fremdanspruch!

Nachtrag (Februar 2005): Ein bayerischer Minister hat dieser Tage die Problemlage erkannt, als er feststellte, daß die Gehaltseingangsstufe eines W2-Professors mittlerweile niedriger sei als das Einkommen eines Grundschullehrers.

Wehmütige Erinnerung. Eine unheilige Allianz aus Bürokraten, Projektemachern und »organisierten Didaktikern« habe ein marodes Bildungswesen hervorgebracht. »Die Tradition der abendländischen Bildung ist ihnen höchst verdächtig«, führt Wolfgang Sofsky in der NZZ (Nr. 46/2002, S. 21) in einem Beitrag aus, der überschrieben ist: Abfahrt in die Umnachtung. Eine Polemik. Was älter sei als die eigene Lebenszeit, zähle als nutzloses Gepäck. Favorisiert werde der professorale Fachidiot, dessen neue Lehrlast keine Zeit lasse, »die Souveränität des gebildeten Gelehrten zu erlangen«. Was man neue Selbständigkeiten nenne, seien häufig »Hausberufungen durch wohlwollende lokale Senioren«. Nicht ohne Wehmut erinnere man sich »an jene mittlerweile fast ausgestorbene Spezies des akademischen Lehrers, der nicht nur sein Fach beherrschte, sondern auch über genügend Lebenserfahrung jenseits der Bildungseinrichtungen verfügte, um etwas zu sagen zu haben. Da er sich durch die Grenzen der Einzeldisziplin nicht einengen ließ, öffnete er seinen Schülern die Augen und war doch hoch erfreut, wenn sie ihren eigenen Verstand nutzten und ihm widersprachen. – Von dem alten Ideal eines Bildungsprozesses hat sich die Universitätslehre bereits weit entfernt. Dieser Trend wird durch die jüngsten Maßnahmen weiter beschleunigt. Interpretationskunst wird durch Didaktik, die Anstrengung des Begreifens durch Schnellrezepte ersetzt. Nicht selten unterschreiten Seminare an der Hochschule das Niveau von Volkshochschulkursen… Und die Dozierenden passen sich dieser Gewohnheit an, um peinliche Stunden des Schweigens zu vermeiden und sich – Stichwort Qualitätssicherung – keine negativen Evaluationspunkte einzuhandeln. Sinne, Intellekt und Imagination werden so durch Lernprogramme gelöscht. Das Studium wird verkürzt, sein Inhalt reduziert, das Pflichtprogramm so verdichtet, dass niemand mehr zur Besinnung kommt…«. Doch Bildung brauche Zeit und Disziplin. Wissenschaft solle man nicht allein Universitätslehrlingen und hektischen Projektgruppen überlassen, sondern vor allem Altmeistern, die durch Erfahrung gereinigten Geistes seien. »Dass manche Hauptwerke erst nach Jahrzehnten geschrieben werden und manche Erkenntnisse ein ganzes Arbeitsleben benötigen, kommt den amtlichen Destrukteuren erst gar nicht in den Sinn… Nicht Einfallsreichtum, geistige Konzentration und Originalität sind gefragt, sondern Präsenz im Wissenschaftsbetrieb, unternehmerisches Akquisitionstalent und konformes Projektdesign. Die Erfindung neuer Forschungslücken, genehme Antragsprosa und die Pflege guter Beziehungen treten an die Stelle traditioneller Forschungstugenden. – Nicht der Gelehrte, der versierte Projektmanager ist von nun an die Leitfigur der ›höheren Bildungsanstalt‹. Sein Augenmerk gilt weniger dem Resultat als dem Prozess« (Hervorhebungen: E.D.).

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, Aus: www.walthari.com

24. Januar 2005 + 10. Februar 2005

Professoren zwischen Ängstlichkeit und Pflichterfüllung

Wiederum läuten die medialen Alarmglocken reichlich spät. Seit einigen Jahren ist die politische Klasse dabei, eine der ältesten Kultureinrichtungen Deutschlands unter dem Deckmantel der Reform zu ruinieren, nämlich die Universitäten. Tief erschrocken zeigt sich die FAZ in ihrem politischen Leitartikel vom 15. Januar 2005: »Das Bündnis zwischen dem verantwortlichen Staat und einer freiheitlich forschenden und lehrenden Universität ist zerbrochen, das ist das eigentlich Fatale an der derzeitigen Hochschulkrise. Aus der einstigen Lehranstalt für Begabte ist ein öffentlicher Dienstleister geworden, der mit weniger Geld mehr Qualität schaffen soll und dazu noch die zum Scheitern verurteilte Aufgabe erfüllen muß, die Massenbildung mit der Elitenbildung zu vereinen. Was sich in Deutschland hochschulpolitisch abspielt, ist die mutwillige Zerschlagung europäisch und international konkurrenzfähiger Universitäten, die sich trotz aller Widrigkeiten aus Überzeugung darum bemühen, die Einheit von Forschung und Lehre zu wahren… Vor allem aber können Hochschulen nur so gut sein wie ihre wissenschaftlichen Köpfe unter den Lehrenden… Wer Professoren zu entmündigten Angestellten herabwürdigt und ihnen ihr kostbarstes Gut, die Freiheit, raubt, fördert keine internationale Konkurrenzfähigkeit, sondern mangelndes Niveau und Provinzialität« (Hervorhebung: E.D.).

Exakt diese Analyse und Warnung habe ich bereits im Jahre 2002 in meinem Buch ›Die Universität als Lebensform und Reformopfer‹ vorweggenommen (vgl. dazu Fenster ›Sachbücher/Sektion Wissenschafts- und Universitätspolitik‹ in diesem WALTHARI-Portal), ohne daß sich die ›Reformer‹ haben beirren lassen und ohne daß die gebotenen Zerschlagungsszenarien von den Medien ernst genommen wurden. Eine der Hauptursachen für den Niedergang der Universitäten tippt die Leitartiklerin Heike Schmoll nur an: die Falschberufungen. Wie ernst nehmen Hochschulorgane ihre Verantwortung gegenüber den Studierenden und der Disziplinentwicklung, wenn z. B. Fachbereiche, die auch zukünftige Lehrer auszubilden haben, Berufungen durchgehen lassen, bei denen die Stelleninhaber keinerlei Schulpraxis vorweisen können? Eingestellt werden dann Universitätslehrer, die sich leicht zu anpasserischen ›Reform‹-Knechten machen lassen (›Professor Knecht‹ lautet denn auch die Überschrift des FAZ-Leitartikels), weil sie im Hörsaal nicht das lehren können, was die Studierenden erwarten dürfen und daher verunsichert sind, da sie ein Berufsleben lang nur halbprofessionalisiert auf dem Forschungs- und Berufsgelände agieren. Unter der Kapitelüberschrift ›Oh je, die liebe Kollegenschaft: Professoren zwischen Ängstlichkeit und Pflichterfüllung‹ habe ich in der angezeigten Publikation ausgeführt:
»Professorenschelte. Ein festes Segment im Themenrad der Medien- und Parteiendemokratie sind die Universitätslehrer, deren berufliche Sonderstellung und Arbeitsweise so gar nicht mit dem gleichmacherischen Zeitgeist verträglich sind. Professoren haben keine Fachvorgesetzten, verfügen weitgehend über Zeitsouveränität, dürfen zuhause arbeiten und sogar ihre Tätigkeitsschwerpunkte selber auswählen. Ein so elitäres Berufsdasein erweckt den Neid termingehetzter Journalisten, Verbandsfunktionäre und Politiker. Kein Wunder, daß sie den Hochschullehrer immer wieder ins despektierliche Visier nehmen und daß sie in den letzten Jahrzehnten vieles getan haben, um das Bild und die Freiräume der Wissenschaftseliten nach ihrem Regulierungsbegehren zurechtzustutzen. ›Faule Professoren!‹ tönt es von Zeit zu Zeit aus dem Medienzirkus. Doch habe ich während meiner langen Universitätszugehörigkeit zehnmal mehr überarbeitete als faule Kollegen angetroffen. Auch Verbandsfunktionäre machen sich immer wieder staatstragende Gedanken darüber, was Professoren ›eigentlich‹ machen und leisten müßten. Am schäbigsten (weil mit raffiniert legitimierter Einschnürungsstrategie) fühlen sich freilich die Hochschullehrer von den Parteien behandelt, die Herr über die Legislative sind und Gesetze beschließen können, die die Substanz des professoralen Berufsbildes und das Berufsethos beschädigen. Dafür ist die Erfindung der Fehlgestalt namens Juniorprofessor nur ein jüngeres Beispiel. Daß außerordentliche Professoren, die eine lange Qualifizierungs- und Verzichtsstrecke durchlaufen haben, mit Studiendirektoren und Regierungsdirektoren gehaltsmäßig auf die gleiche Stufe gestellt werden, entlarvt die Wissenschaftseinschätzung der Legislative wie kaum eine andere ›Fürsorgemaßnahme‹. Der Wechsel von der H- über die C- zur W-Besoldung hat an der skandalösen Berufspolitik nichts geändert, im Gegenteil. Während sich die Parteien und besonders ihre Mandatsträger großzügig aus der Staatskasse selber bedienen, halten sie die wohl bedeutsamste Elite der Postmoderne, die Wissenschaftler, an der Futterkrippe für Verwaltungsbeamte angekettet. Daß die Professorenschaft diese Entwicklung seit Jahr und Tag hinnimmt, hat viel mit der sprichwörtlichen Ängstlichkeit (und auch Feigheit) des Gelehrtentyps zu tun und noch mehr mit seiner Sachversessenheit, die ihn schon in monarchistisch-absolutistischen Zeiten die Narrenkappe hat ertragen lassen: Als an der kurpfälzischen Residenz die Hofnarren abgeschafft wurden, rechtfertigte sich Seine Exzellenz gegenüber den erstaunten Nachbarmonarchen damit, daß er ja, wenn es ihm nach Belustigung verlange, einige Heidelberger Professores zur Disputatio einladen könne. Um das Publikum heutzutage zu belustigen, zerren die Medien von Zeit zu Zeit eine Elfenbeinturm-Karikatur in ihre Arena und lassen die Vorstellung von verbandlichen Märchenerzählungen begleiten. Die harten Berufsfakten im Alltag eines Universitätslehrers spielen, obschon empirisch gut belegt und allgemein zugänglich, in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle. Dazu noch öffentlich gescholten und parteienstaatlich kleingehalten zu werden – ohne ausgeprägte Berufsvernarrtheit wäre dies nicht erklärbar« (a.a.O., S. 100 f.).

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, Aus: www.walthari.com

Ergänzung: 10. Februar 2005

»Libido sciendi. Im Jahre 1773 machte sich der berühmte Monsieur Denis Diderot über den noch berühmteren ›Herrn Leibniz‹ lustig. Obschon Leibniz auf französisch schrieb, mißfiel dem Aufklärer der unfranzösische Arbeits- und Lebensstil des deutschen Universalgenies: Über Jahrzehnte hätte dieser Gelehrte täglich im Morgenmantel über Geometrie, Metaphysik usw. gebrütet, nein, nicht für Geld, auch nicht, um den Frauenzimmern zu gefallen, sondern einzig um seinen Ruhm zu vermehren. Für den französischen Enzyklopädisten war die asketische Lebensweise des Gelehrten aus dem dunklen Germanien für billigen Spott gut genug. Eine lebende Denkmaschine sei er, fern aller Lüste, der Sklave eines falschen Ehrgeizes, der im Esprit seinen Gott gefunden habe. Vermutlich hat Diderot das Phänomen der passions intellektuelles zu sehr unter dem Schielblick auf Mousse au Chocolat und auf geschnürte Mieder gesehen. Akademischer Hochmut ist so alt wie die Hohen Schulen, aber bei allem berechtigten Spott über Rivalitäten, Mißgunst und zünftige Narren kann ein Phänomen nicht übersehen werden: der Drang, sich ohne Wenn und Aber in den Dienst der Wissenschaft zu stellen und dabei den Denk- und Entdeckerreisen so sehr zu verfallen, daß man sein Leben mehr oder weniger danach ausrichtet. Leibniz im Morgenmantel, unentwegt geistige Probleme hin- und herwälzend – Varianten dieser wissenschaftlichen Besessenheit sind auch heute noch anzutreffen. Und vielleicht ist es nicht der geringste aller Verluste, daß die bürokratischen Berauschungen (Evaluation usw.) diesen Denkertyp zur aussterbenden Spezies academica gemacht haben. Neben den vielen Drittmittelhausierern auch ein paar Leibnize im Morgenmantel – davor mögen sich ›Qualitätsmanager‹ bekreuzigen, dem Wissenschaftsklima wäre sie sehr förderlich, die Libido sciendi.
(Aus: Die Universität als Lebensform und Reformopfer. Eine Bilanz nach zweiunddreißig Lehrstuhljahren, Münchweiler 2002, S. 101 f.)
© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, Aus: www.walthari.com

1. November 2003

Samuel von Pufendorf – Ein vergessener früher Menschenrechtsdenker

Zur nachgeholten Würdigung seiner verkannten bedeutsamen Verdienste würden die Franzosen eine Weltkonferenz im UNO-Rahmen einberufen, die Spanier ein turmhohes Menschenrechtsdenkmal in Madrid bauen, die Italiener ein Vetorecht bei der EU verlangen und die Engländer ein Kriegsschiff nach ihm benennen. Die Deutschen dagegen verharren in auferlegter Selbstvergessenheit, auch wenn sie Grund zum patriotischen Feiern hätten. Im Jahre 1665, mehr als einhundertelf Jahre vor der Verabschiedung der amerikanischen Verfassung (1776) und mehr als einhundertzwanzig Jahre vor der französischen Revolution (1789) mit der Proklamation: liberté, égalité, fraternité erstellte ein Heidelberger Professor namens Samuel von Pufendorf (1632-1694) für seinen pfälzischen Kurfürsten Karl Ludwig, Sohn des ›Winterkönigs‹ Friedrich V., ein Gutachten, in dem er den Grundstock für die modernen Menschenrechtsbewegung legte. Das Gutachten ging in Pufendorfs spätere Naturrechtslehre von 1672/73 ein. Die Geburtsstätte der auf Gleichheit und Freiheit des Einzelnen beruhenden Staatsverfassungen in der Moderne liegt in der Kurpfalz. Sie billigte dem gemeinen Mann bereits im 17. Jh. eine vertragsrechtliche Stellung zu, die er sich lange vor den Unabhängigkeitskriegen in den USA und der französischen Revolution erkämpft hatte…

Hier ein Auszug aus Kapitel 7: »§ 1: Daß jeder jeden anderen Menschen als jemanden, der ihm von Natur aus gleich ist und in gleicher Weise Mensch ist, ansieht und behandelt… § 3: Aus dieser Gleichheit folgt ferner: daß derjenige, der die Hilfe anderer zu seinem Vorteil heranziehen will, sich als Gegenleistung auch zu deren Nutzen einsetzen muß. Denn wer fordert, daß die anderen ihm zu Diensten sind, selbst hingegen stets frei von Leistungen sein will, der betrachtet die anderen nicht als gleichwertig. Daher sind diejenigen am meisten zum Leben in der Gemeinschaft geeignet, die allen bereitwillig das erlauben, was sie auch für sich selbst als erlaubt ansehen.« In den Schulbüchern der ganzen Welt werden…

Darüber hat die Literaturzeitschrift WALTHARI in Heft 24/1995, S. 25 ff. berichtet und mit Erstaunen festgestellt, daß der vertragsrechtliche Freiheitsansatz Pufendorfs dem anspruchsrechtlichen Sozialansatz Hobbes und Humes, der zum modernen Sozialstaat und zu dessen Bankrott geführt hat, weit überlegen ist. Schon zu seinen Lebzeiten legte der Heidelberger Gelehrte sein achtbändiges ›Natur- und Völkerrecht‹ (1672/73) in einer Volksausgabe unter dem Titel ›Über die Pflicht des Menschen und Bürgers nach dem Gesetz der Natur‹ vor, die in zehn Sprachen erschien, aber im Schatten der angelsächsischen Weltdominanz und des französischen Missionseifers vergessen wurde. Durchgesetzt hat sich das Hume’sche Anspruchs- und Eigentumsdenken, nicht das Pufendorf’sche Vertrags- und Pflichtdenken im Solidarverband, das dem Grundsatz gehorcht: »Jeder muß die Gemeinschaft nach Kräften schützen und fördern.« Wäre man Pufendorf gefolgt, hätte die zuerst europäische und – ab dem 19. Jahrhundert – die Weltgeschichte einen konfliktärmeren Verlauf genommen…

Seine Zurückweisung stellt Pufendorf auf ein naturrechtliches Fundament, das bis dahin seinesgleichen nicht hat und als Gründungsakt der Menschenrechte in der Moderne zu sehen ist. Aus der Natur des Menschen (»humana natura«) ergebe sich seine Würde und Gleichheit (!), auch wenn er ungleich geboren werde. Gleichheit bedeute nicht gleiche physische und geistige Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern gleiche Rechtsstellung untereinander und gegenüber dem Herrscher. Bestehende Unterschiede bei den Untertanen (»subjecti«) hätten im früheren Naturzustand, nicht im Staatsvertrag ihren Ursprung! Nicht bloße Machtunterschiede, vielmehr der Gebrauch dieses Machtgefälles schade oder nütze den Menschen. Daraus ergebe sich nützlicherweise die freiwillige (d.h. vertragliche) Unterwerfung der Schwächeren unter die Stärkeren, was allerdings nicht als eine naturgegebene oder von Gott gewollte Machtkonstellation anzusehen sei, sondern eine vertragsrechtliche Vereinbarung, die Zustimmung voraussetze und so die Staatsgewalt (»imperium civile«) begründe. Zum Jus naturale Pufendorfs gehört der Grundsatz: Obschon Menschen ungleich sind, besitzen sie aus ihrer Natur heraus (»naturaliter«) gleiche Rechte (Ut quisquis alterum hominem aestimet atque tractet, tamen naturaliter sibi qequalem, seu ut aeque hominem«; in: Natur und Völkerrecht, 3. Buch, 2. Kapitel, § 1). Damit kann Pufendorf nicht allein als Vordenker der auf Zustimmung angewiesenen Zivilgesellschaft angesehen werden, er vertritt auch eine Staatsauffassung, welche Unterschiede nicht über Sozialansprüche einebnen will, wie dies die Wohlfahrtsstaaten in der Denktradition von Hobbes und Hume anstreben – mit bekannten katastrophalen Folgen. Menschen und nicht staatliche Einrichtungen müssen…
© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer – Aus: www.walthari.com

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16. September 2003

Minister Zöllners universitäre Kollateralschäden

Anmerkungen zum neuesten Hochschulgesetz und zu seinen Folgen –

Teil 3 (von 7)

Das neue Hochschulgesetz ist erkennbar mit der Absicht konstruiert, die bisher fakultätsföderativ und basisautonom ausgerichteten Universitäten zentralistisch umzubauen. Leitbild ist eine Art Wissensbetrieb mit erhöhter Durchlaufgeschwindigkeit von Studierenden. Nicht allein die Einbindung von Fachhochschulen ist dafür ein Beleg, auch die gravierend veränderte Organisations-, Leitungs- und Entscheidungsstrukturen (vgl. die Teile 1 und 2) stehen einer betriebswirtschaftlich-patriarchalischen Unternehmensverfassung weit näher als der herkömmlichen Universitätsverfassung. Da die Hochschulen des Landes jedoch Körperschaften des öffentlichen Rechts sind (§ 6), ist das privatrechtliche Leitbild in zentralistischer Absicht nur mit obrigkeitlichen Regelungen zu haben. Es ist spannend zu sehen, wie die Gesetzesmacher unter der Federführung von Minister Zöllner den Universitäten des Landes eine Fassung verpassen, welche universitäre Traditionen (die rechtlich nicht geschützt sind, aber Respekt verdienen) weitgehend wegwischt und welche grundgesetzlich gesicherte Positionen (die nicht wegzuwischen sind wie etwa die Freiheit von Forschung und Lehre) gesetzestechnisch so umgarnt, daß der hierarchische Aufbau durchgriffsstrammer Ministerien durchschimmert: Mit sinkender Hierarchiestufe nehmen Entscheidungsgewalt und Freiheitsraum dramatisch ab – exakt die in Gesetz gegossene Umkehrung universitären Selbstverständnisses aus Aufgabenstellung und Tradition.
Das Recht auf Selbstverwaltung wird durchaus zugestanden (§ 6 Abs. 2), aber die Einschränkungs- und Bindungsklauseln sind Legion. Das trifft für die Lehre dezidiert zu und für die Forschung durch Hintertüren. Beginnen wir mit der Forschung, dem zentralen Erkennungsmerkmal für die Qualität universitärer Wissenschaft. Zunächst ist bezeichnend, daß der historisch hart erkämpfte wissenschaftliche Freiheitsraum des Grundgesetzes (»Forschung und Lehre sind frei«, Art. 5 Abs. 3 GG) an keiner Stelle des Gesetzes auftaucht, vielmehr wird in § 12 festgestellt, daß die »Forschung in den Hochschulen… unter Berücksichtigung der Aufgabenstellung der Hochschule alle wissenschaftliche Bereiche« zum Gegenstand haben kann. Die freie Wahl von Forschungsthemen durch den einzelnen Hochschullehrer wird aber schon in § 12 Abs. 2 eingeschränkt: »Forschungsvorhaben… werden von der Hochschule in der sachlich gebotenen Weise koordiniert. Zur gegenseitigen Abstimmung von Forschungsvorhaben… wirken die Hochschulen untereinander… zusammen.« Das heißt im Umkehrschluß: Forschungsvorhaben, die nicht koordinierbar und nicht »nach Maßgabe ihrer (der Hochschule) Forschungsplanung« einzuordnen sind, werden zumindest auf Schwierigkeiten stoßen. Diese Schwierigkeiten können nicht allein thematisch, sondern auch dienstrechtlich erheblich sein, nämlich bei der Konkretisierung der »im Rahmen für ihr (der Professoren) Dienstverhältnis geltenden Regelung« (§ 48 Abs. 2) und bei der Festlegung der Lehrverpflichtung, deren Umfang vom »fachlich zuständigen Ministerium… im Einvernehmen mit den für das Beamtenrecht und für das Haushaltswesen (!) zuständigen Ministerien« festgelegt wird (§ 47 Abs. 1). Die »Hochschulen sind (dabei nur) zu hören«. Der im gleichen Absatz für die individual-freie Forschung indirekt sehr bedeutsame Satz lautet: »Bei der Festlegung der Lehrverpflichtung sind die Beanspruchung durch sonstige dienstliche Aufgaben, insbesondere der Forschung… sowie der unterschiedliche Zeitaufwand für die Vorbereitung und Durchführung der verschiedenen Arten von Lehrveranstaltungen zu berücksichtigen…« Im Klartext: Nicht koordinierte und/oder koordinierbare Forschungsvorhaben, die nicht in den Forschungsplan der Hochschule passen, werden bei der Festlegung der Lehrverpflichtung nicht angerechnet. Diese massive faktische Einschränkung der Forschungsfreiheit wird grundsätzlich nicht dadurch gelockert, daß nach § 14 ein Recht auf Drittmittelforschung eingeräumt wird, denn dieses Recht unterscheidet sich nach dem Gesetzeswortlaut von der hochschulfinanzierten Forschung nur durch ihre Finanzquelle (»Mittel Dritter«), nicht durch freie Themenwahl außerhalb des Forschungsplans der Hochschule. Für die Einbindung sorgt zudem die Genehmigungspflicht der »Annahme der Drittmittel… durch den… Präsidenten« und der Vorbehalt einer »Zustimmung zur Inanspruchnahme der damit verbundenen Vorteile für die beteiligten Mitglieder der Hochschule« (§ 14 Abs. 3).

Aber nicht allein die unter dem Finanz- und Lehrbedarfsvorbehalt (vgl. § 21 Abs. 1 i.V.m. § 47 und § 88 Abs. 2 letzter Satz) stehende und damit variable und nach oben steigerbare Lehrverpflichtungs-Festlegung berührt die Freiheit und die verbleibende Zeit der/für Forschung, die Einschränkung kann nach dem Gesetzeswillen schon bei der Funktionsbeschreibung der Stelle beginnen. Liest man § 48 in Verbindung insbesondere mit den §§ 12, 14, 88 und 90, so schält sich eine rechtlich bedenkliche Verschiebung im Forschungsverständnis heraus. Bekanntlich speist sich die Statusbeschreibung für einen Professor aus drei Rechtsquellen: (1) aus dem allgemeinen Dienstrecht (Beamtengesetz u.a.), (2) aus den hochschulinternen Regelungen und (3) aus der individuellen Berufungsvereinbarung. Das neue Hochschulgesetz dehnt das Gewicht der zweiten Rechtsquelle auf Kosten der dritten beträchtlich aus und schränkt damit die herkömmlichen Individualrechte der Professoren in Forschung und Lehre ein. Zwar spricht das Gesetz an mehreren Stellen von der selbständigen Wahrnehmung der Dienstaufgaben, aber diese Selbständigkeit besteht nur »im Rahmen der für ihr Dienstverhältnis geltenden (d.h. allgemeinen, Quelle 2) Regelungen«. In § 48 Abs. 2 heißt es weiter: »Sie (die Universitäts- und Fachhochschullehrer) haben im Rahmen der für ihr Dienstverhältnis geltenden Regelungen die zur Sicherstellung des Lehrangebots gefaßten Beschlüsse der Hochschulorgane (§ 21 Abs. 1) zu verwirklichen.« Die veränderte Gewichtung der drei Rechtsbestimmungen macht unmißverständlich auch die Reihenfolge in § 48 Abs. 3 klar: »Art und Umfang der von einzelnen Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern wahrzunehmenden Aufgaben richten sich unter Beachtung der Absätze 1 und 2 nach der Ausgestaltung ihres Dienstverhältnisses und der Funktionsbeschreibung ihrer Stelle.« Die Funktionsbeschreibung der professoralen Stelle ist Gegenstand der Berufungsvereinbarung, welche die individuellen Pflichten und Rechte festlegt, der aber nunmehr, nach dem Gesetzeswillen, eher randständige Bedeutung zukommen kann. Entscheidend für die Dienstwahrnehmung sind nämlich die für das Dienstverhältnis geltenden allgemeinen Regelungen und »die Beschlüsse der Hochschulorange« (§ 48 Abs. 2), insbesondere diejenigen des Fachbereichs (§ 21 Abs. 1 i.V.m.§ 48 Abs. 1). Dies entspricht mehr der gängigen Ausgestaltung der dienstlichen Aufgaben eines Fachhochschullehrers als dem herkömmlichen Berufsprofil eines Universitätslehrer. Zu der Umprofilierung im herkömmlichen Berufsbild eines Universitätslehrers paßt auch die Entscheidungsverschiebung von den Instituten und Fachbereichsräten auf die Fachbereiche (vgl. §§ 86 ff.) und die auffällige Tatsache, daß an vielen Gesetzesstellen von den Pflichten des Hochschullehrers die Rede ist, an kaum einer Stelle aber von seinen Rechten. Die Gewährung eines Forschungsfreisemesters z.B. ist einer Kannbestimmung unterworfen (§ 53), die persönliche Arbeitszeitgestaltung steht unter Vorbehalt (§ 52 Abs. 1) usw. Der Gesetzgeber glaubt offenbar, daß er dem Tatbestand der grundgesetzlich garantierten Freiheit der Forschung und Lehre, die zuvörderst ein Individualrecht ist, rhetorisch mit den Wendungen »selbständige Forschung« (§ 14) und selbständige Aufgabenwahrnehmung (§ 48 Abs. 1) gerecht wird, obschon diese Selbständigkeit stark eingeschränkt ist (vgl. oben). Bei der Regelung der Lehrverpflichtung in § 47 und der dienstlichen Aufgaben (§ 48) der Professoren findet sich der Gesetzgeber nicht einmal bereit, von einer »selbständigen Lehre« zu sprechen. In der Zusammenschau mit den Teilen 1 und 2 schält sich ein Professorenprofil heraus, das mehr einem Erfüllungsgehilfen, dem man sogar »persönliche Sprechstunden« (§ 48 Abs. 1) vorschreiben zu müssen glaubt, ähnelt als einem Universitätslehrer im Verständnis der herkömmlichen Grundsätze des Hochschulrechts.

Die faktische Herabstufung der Universitätsprofessoren auf Fachhochschulniveau wird begleitet von der Verzweiflungsfigur namens Juniorprofessor, deren Einstellungsvoraussetzungen sich nur wenig von derjenigen eines gymnasialen Studienrates mit besonderem wissenschaftlichem Interesse unterscheidet. Wie mißraten diese Habilitationskonkurrenz schon vom Ansatz her ist, zeigen die sich mehrenden Hausberufungen – ein sicheres Zeichen für wissenschaftlichen Qualitätsverfall.

Ein Vergleich der Einstellungsvoraussetzungen für Juniorprofessoren mit denjenigen für wissenschaftliche Mitarbeiter belegt schlagend, in welche personalwirtschaftliche Sackgasse sich der Gesetzgeber unter der Federführung von Minister Zöllner hat manövriert lassen: In beiden Fällen werden abgeschlossenes Hochschulstudium und Promotion vorausgesetzt. Die hinzugefügten gesetzesfeinen Unterschiede werden in der Praxis schon deshalb keine große Rolle spielen, weil der Gesetzgeber selber dazu anleitet: Wissenschaftliche Mitarbeiter haben nach § 56 Abs. 1 wissenschaftliche Dienstleistungen zu erbringen, die vom Dekan (»in begründeten Fällen«) »auch… (als) selbständige Wahrnehmung von Aufgaben in Forschung (!) und Lehre« eingestuft werden können (§ 56 Abs. 1, letzter Satz); das ist als Verleihung der vollen Venia legendi ebenso hoch einzustufen wie die für Juniorprofessoren maßgebliche »besondere Befähigung zu wissenschaftlicher Arbeit« als dritte Einstellungsvoraussetzung (§ 54). Trotz gleicher wissenschaftlicher Qualifikation dieser Venia-legendi-Mitarbeiter genießen aber Juniorprofessoren durchaus Statusrechte von Professoren – eine verheerende Motivationslage für den Mittelbau insgesamt, denn in der Praxis übertragen Dekane (wie auch schon in der Vergangenheit die Fachbereichsräte aus Lehrangebotsnot) wissenschaftlichen Mitarbeitern auch selbständige Lehrwahrnehmungen. Das angesprochene Schlupfloch im Gesetz (»In begründeten Fällen kann durch die Dekanin oder den Dekan wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch die selbständige Wahrnehmung von Aufgaben in Forschung und Lehre übertragen werden«, § 56 Abs. 1) ist nicht nur aus dem genannten demotivierenden Konkurrenzgrund die wohl schlimmste Fehlleistung des Gesetzgebers; der Ermächtigungssatz hebelt im Grunde sämtliche wissenschaftliche Qualifikationsbemühungen und Berufungsarbeiten aus. Man bedenke: Dekane allein können, ohne Vorprüfung und Zustimmung durch Professoren und Gremien, »in begründeten Fällen… die selbständige (!) Wahrnehmung von Aufgaben in Forschung (!) und Lehre« an wissenschaftliche Mitarbeiter übertragen, d.h. volle professorale Statusrechte kreieren. Was in der Praxis in aller Regel »begründete Fälle« sein werden, weiß jeder Hochschulkundige: professorale Stellennot. Das heißt: Aus Stellennot »kann« selbständige Forschung und Lehre durch Mitarbeiter erwachsen, ohne daß die bei Berufungen zum Professor übliche Qualifikationsprüfung stattgefunden hat. Hier hat der Gesetzgeber neben den Juniorprofessoren eine wundergleiche Vermehrungseinrichtung von Quasi-Professoren geschaffen.

Die Phantasie ministerieller Universitätsverwalter zur Erfindung von Professuren außerhalb eines ordentlichen Berufungsganges übertrifft bei weitem ihre Stellenbereitstellung. Anfang der 90er Jahre propagierte man sog. Praxisprofessuren, die von Unternehmen mitfinanziert werden sollten, was sich als Flop erwies. Juniorprofessuren wurden politisch und finanzverlockend durchgedrückt, Quasi-Professuren werden angesichts der Stellen- und Mittelnot vermutlich bald zur Routine. Die Universitäten des Landes Rheinland-Pfalz sollten sich keinen Illusionen mehr hingeben: Was in den Jahrzehnten nach 1968 fachbereichsintern noch extra legem abgefedert werden konnte, ist nach dem Systemwechsel 2003 nicht mehr möglich. Die gesamtkulturelle Zöllner’sche Landesrevision fürchtet weder Orchester-, noch Bibliotheks- noch Universitätskulturen. Zöllners Polit-Batallione schleifen altehrwürdige Universitätseinrichtungen so napoleonisch-schneidig, wie sie Orchestergräben überspringen.
©Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, aus: www.walthari.com

Minister Zöllners universitäre Kollateralschäden

Anmerkungen zum neuen Hochschulgesetz in Rheinland-Pfalz und zu seinen Folgen

1. Dezember 2003

Teil 6 (von 7)
Auch in dem zentralen Bereich ›Studium und Lehre‹ (Teil 1, Abschnitt 2) wäre ein verschlanktes HochSchG und damit mehr Freiraum (Autonomie) angebracht gewesen. Bundesweit sehen sich die Universitäten nicht allein an eine Legion fragwürdiger Vorgaben gefesselt, darüber hinaus schlägt man ihnen die weltweit angesehenen deutschen Studienabschlüsse Diplom und Magister obrigkeitlich aus der Hand. Am 10. Oktober 2003 hat die Kultusministerkonferenz (KMK) »Ländergemeinsame Strukturvorgaben für die Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen« verabschiedet und bekräftigt, daß der Bachelorabschluß künftig zum Regelabschluß eines Hochschulstudiums werde. Zwar läßt das HochSchG-RP den Diplomgrad weiterhin zu (§ 30 Abs. 1), doch ergibt sich aus dem Gesetzestext insgesamt, daß der Bachelor- und Masterabschluß favorisiert wird (§ 19 Abs. 4 u.a. Stellen).

Im Vorgriff hatte Minister Zöllner bereits im März 2003 verkündet, die Hochschulen seines Landes seien »fit für die Zukunft«, da das neue HochSchG ihre Wettbewerbsfähigkeit steigere (Staatszeitung, Nr. 10/03). In einer Pressemeldung vom 18.3.03 ließ der Minister mitteilen, die Hochschulen hätten es »außerordentlich (!) begrüßt, daß das Verhältnis zwischen Staat und Hochschule massiv (!) dereguliert« würde. Hätte der Minister vor solchen Verlautbarungen nicht nur Hochschuloffizielle, sondern auch Universitätslehrer befragt (sie sind immerhin die Hauptträger des universitären Kerngeschäfts, nämlich der Forschung und Lehre), wäre er vermutlich ebenso eines Besseren belehrt worden wie Bundesbildungsministerin Bulmahn, die statt der behaupteten 612 Stellen für Juniorprofessoren nur 339 Stellen vermelden konnte (Forschung & Lehre 10/03).

Wie es bei obrigkeitlichen Zustimmungseinholungen zugehen kann, erfährt man nicht nur am skandalösen Fall der Hamburger Dohnanyi-Kommission (FAZ Nr. 82/03, S. 35), ich selber ›erfuhr‹ eine seltsame Erkundungspraxis des Wissenschaftsrates an meiner Universität (vgl. dazu: Die Universität als Lebensform und Reformopfer, 2002, S. 140).

Es lohnt sich allemal, bei einer systematischen Gesetzesanalyse die erklärten Absichten amts- und sanktionsbewehrter Hochschulpolitiker im Auge zu behalten. So konnte man der zitierten Pressemeldung v. 18.03.2003 (in: www.mwwfk.rlp.de) die erstaunliche Auffassung Minister Zöllners entnehmen: »Mit Hilfe des Gesetzes werde auch der Druck auf die Hochschulen erhöht, ihre Studienangebote so zu modernisieren und zu entschlacken, daß diese in der vorgegebenen Regelstudienzeit auch tatsächlich zu absolvieren sind.« Was der Minister unter erhöhtem Druck auf die Hochschulen versteht, kommt im neuen HochSchG-RP besonders bei der Regelung des Studiums und der Lehre (§§ 16-35) unmißverständlich zum Ausdruck: Die Universitäten werden in freiheitseinschränkender Weise verschult. Vorbild dafür sind offensichtlich die traditionell verschulteren Fachhochschulen, die bezeichnenderweise im HochSchG-RP mitgeregelt werden.

Der Bruch mit der Universitätstradition wird schon im Eingangsparagraphen markiert: »Lehre und Studium sollen die Studierenden auf ein berufliches Tätigkeitsfeld vorbereiten und ihnen die dafür erforderlichen fachlichen und fachübergreifenden Kenntnisse, Fähigkeiten und Methoden der Aufgabenstellung der Hochschule und dem jeweiligen Studiengang entsprechend so vermitteln, daß sie zu wissenschaftlicher oder künstlerischer Arbeit und zu verantwortlichem Handeln in einem freiheitlichen demokratischen und sozialen Rechtsstaat fähig werden« (§ 16 Abs. 1). Entscheidend ist das harmlos scheinende Wörtchen »dafür«: Nur Kenntnisse, Fähigkeiten und Methoden, die »auf ein berufliches Tätigkeitsfeld vorbereiten«, werden für (»dafür«) erforderlich gehalten. Demgegenüber galt über Jahrhunderte als Doppelziel eines Universitätsstudiums: (1) der Erwerb wissenschaftlichen Denkens sowie genereller wissenschaftlicher Arbeitsfähigkeiten einschließlich einer breiten akademischen Bildung und erst danach (2) der Erwerb spezieller berufsqualifizierender, also fachlicher Kompetenzen. Die im Gesetz erwähnten »fachübergreifenden Kenntnisse« stehen jedoch ausdrücklich unter der Einschränkung des »Dafür« (Vorbereitung auf eine berufliche Tätigkeit). Damit wird das traditionelle Universitätsstudium (Ziel 1 oben) fachhochschulisch eingeebnet, nämlich auf eine reine Ausbildungsveranstaltung. Diese Zielnivellierung widerspricht berufswissenschaftlichen Erkenntnissen und schränkt die spätere Berufspraxis von Universitätsabsolventen nachweislich ein. Denn es ist (war) gerade eine universitär-wissenschaftliche ›Allgemeinbildung‹, die es selbst Altphilologen ermöglicht(e), als Manager tätig zu sein, und die sogar Theologen befähigt(e), in einer Personalabteilung eines Konzerns zu arbeiten. Dazu sehen bzw. sahen sie sich aufgrund allgemein-wissenschaftlicher Arbeitsfähigkeiten in der Lage. Auf solche primäre Schlüsselqualifikationen ist das »Ziel des Studiums« (§ 16 oben) nicht mehr ausgerichtet, es gebietet ein durchgeregeltes Berufsstudium.

Der generelle Erwerb wissenschaftlichen Denkens und entsprechender Arbeitsfähigkeiten verlangt Freiräume im Stoff und in der Vermittlungsmethode. Doch genau diese Spiel-Räume dulden weder der Minister (er will ja den Druck erhöhen) noch das HochSchG-RP. In verschulter Form werden daher die favorisierten Bachelor- und Masterstudiengänge in Studium und Lehre angeboten. Schließlich sind Regelstudienzeiten einzuhalten (§ 27), wobei »berufspraktische Tätigkeiten, praktische Studiensemester und Prüfungszeiten« eingeschlossen werden (§ 27 Abs. 4). Überschreitungen sind nur »mit Zustimmung des fachlich zuständigen Ministeriums in besonders begründeten Fällen« (§ 27 Abs. 3) zulässig.

»Berufsqualifizierende Abschüsse« sind also für Studium und Lehre das Richtmaß. Zu unterscheiden sind dabei erste und weitere berufsqualifizierende Abschlüsse (§ 27 Abs. 2). Aus den »weiteren besonderen Zugangsvoraussetzungen« zum Masterstudiengang (§ 19 Abs. 4) und im Rückschluß aus § 16 Abs. 2 (»Bei den Studienangeboten ist zwischen dem zu einem berufsqualifizierenden Abschluß führenden Studium [§ 19 Abs. 1 Satz 1 und 2], den weiterqualifizierenden und vertiefenden Studien, an Universitäten insbesondere für den wissenschaftlichen und künstlerischen Nachwuchs [§ 35 Abs. 2], und der in der Regel berufsbegleitenden wissenschaftlichen Weiterbildung [§ 35 Abs. 1] zu unterscheiden«) ergibt sich, daß der Bachelorgrad als Regelabschluß im Sinne des jüngsten KMK-Beschlusses (vgl. oben) auch in Rheinland-Pfalz einzurichten ist. Für einen »ersten berufsqualifizierenden Abschuß in Bachelorstudiengängen« ist eine Regelstudienzeit von »mindestens drei Jahren und höchstens vier Jahren« vorgeschrieben (§ 27 Abs. 2), »für einen weiteren berufsqualifizierenden Abschluß in Masterstudiengängen« eine Regelstudienzeit von zusätzlich mindestens einem Jahr und höchstens zwei Jahren. »In Studiengängen mit einer Regelstudienzeit von mindestens vier Jahren findet eine Zwischenprüfung statt. Der Übergang in das Hauptstudium setzt in der Regel die erfolgreiche Ablegung einer Zwischenprüfung voraus« (§ 19 Abs. 3).
Was ist damit gegenüber den herkömmlichen Diplom- und Magisterstudiengängen gewonnen? Nach dem vorliegenden, »englisch durchgebratenen« (vgl. unten) Studienkonzept ist ein Studium bis zu sechs Jahren möglich, was nicht sonderlich von der bisherigen Praxis in vielen Diplom- und Magister-Studiengängen abweicht. Neu ist die verbindliche Studienzeitdeckelung, verbunden mit der Hoffnung, daß der erste berufsqualifizierende Abschluß (Bachelor) als Regelfall die Durchlaufgeschwindigkeit an Universitäten erhöht und damit die Hochschulen entlastet.

In der Lehr- und Studienpraxis werden sich mit einiger Sicherheit zwei Varianten herausbilden: Bachelorstudiengänge, die gesetzesstreng gehandhabt werden, geraten unter qualifikationsmindernden Stoff- und Zeitdruck und müssen, um die Fristen zu wahren, extrem verschult werden, was auf eine Ausweitung der bisherigen jährlichen Semesterwochenstunden hinauslaufen könnte. Dafür erteilt § 22 HochSchG-RP vorsorglich die Rechtsgrundlage: »Das Ministerium kann… verlangen, daß die Vorlesungszeiten insgesamt oder für einzelne Studiengänge abweichend festgesetzt oder verlängert werden oder daß Lehrveranstaltungen in der vorlesungsfreien Zeit stattfinden, soweit dies zur Behebung von Engpässen in der Ausbildung erforderlich ist.« Wie läßt sich dieser ministerielle Obrigkeitsvorbehalt mit der Hochschulautonomie vereinbaren? Gar nicht. Und was bedeutet diese ›Semestersprengung‹ für die Universitäten? Daß man sie »zur Behebung von Engpässen« (und wann und wo bestünden keine solche!) jederzeit mit einem ministeriellen Erlaß ›gymnasialisieren‹ kann.
Die zweite Variante wird sich vermutlich parallel zur ersten entwickeln, nämlich daß sich zahlreiche, wenn nicht die meisten Studiengangszeiten auf die Deckelungsgrenzen zubewegen. Das heißt: Für den ersten berufsqualifizierenden Abschluß werden vier Jahre Studienzeit und für den Masterstudiengang sechs Jahre wahrscheinlich der Normalfall sein. Dafür sorgt allein schon ein wachsender Stoffdruck, dem auf Dauer keine Bürokratieschranke und keine Sanktionierung Widerstand leisten können. Denn die Bewältigungs- und Disziplinierungsmittel des HochSchGs-RP sind unheilbar mechanistisch-funktional angelegt und blind gegenüber freiheitsschaffenden Kategoriallösungen (vgl. dazu die Buchtitel im Fenster Sachbücher dieses Internetforums www.walthari.com). Somit könnten sich die ›neuen‹ Studienzeiten nicht wesentlich von den herkömmlichen unterscheiden. Dieser Entwicklung werden die geforderte intensivere Studienberatung (§ 24) und die verbindlichen Studienpläne (§ 20), die an die Stelle der bisherigen Studienordnungen treten (verräterisch auch hier die Sprache: Pläne statt offene Ordnungen), nicht aufhalten können.
Letzte Zweifel über Planstaatlichkeit und Gängelei räumt § 20 aus: Wie Schulen haben Universitäten stundengenaue Unterrichtspläne (Studienpläne) aufzustellen, die über Inhalte, Praxiszeiten, »Schwerpunkte und Anforderungen« und »insbesondere (über) die vorgesehenen Lehrveranstaltungen« zu »unterrichten« haben; weiterhin über die »vorgeschriebenen Teilnahme- und Leistungsnachweise eines Studiums, dessen Aufbau und Umfang seinen Abschluß innerhalb der Regelstudienzeit ermöglichen müssen«. Die betreuungsstaatliche Gesinnung und die Entmündigung des Studierenden erreicht mit dieser Verplanung ihren Höhepunkt.

Der Gesetzgeber treibt seine Auffassung über studentische und professorale Freiheiten sogar noch auf eine zweite Spitze, wenn er die Lehrgangsverschnürung unter die Mußvorschrift stellt: »Im Studienplan« ist nicht nur »die Gelegenheit zur selbständigen Vorbereitung und Vertiefung des Stoffes« auszuweisen, sondern auch »die Gelegenheit… zur Teilname an zusätzlichen, insbesondere fachübergreifenden Lehrveranstaltungen nach eigener Wahl«. Wohlgemerkt: »Im Studienplan« (!) hat das alles zu stehen. Man fragt sich verwundert: Welches universitäre Freiheitsverständnis hat auch hier die Gesetzesfeder geführt? Ist den Gesetzesmachern entgangen, daß mit zunehmender Verschulung kaum noch ein Student »fachübergreifende Lehrveranstaltungen nach eigener Wahl« besucht? Begreift man nicht, daß dieses durchbürokratisierte HochSchG-RP die letzten Reste des kostbaren Studiums generale ausmerzt?
Bemerkenswert ist die Kaltfüßigkeit, mit welcher gesetzesmächtige Hochschulpolitiker auch in Rheinland-Pfalz bewährte universitäre Traditionen und Warnschilder basiskundiger Universitätslehrer beiseiteschieben. Man darf die Beiseiteschieber bei dieser Gelegenheit an die Finanzdotierung der Hochschulen erinnern. Während in Kanada die Hochschulfinanzierung 2,51 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beträgt, in den USA 2,33 Prozent, in Finnland 1,78 Prozent, in Österreich 1,45 Prozent und in Spanien immerhin noch 1,10 Prozent, hält Deutschland seine Hochschulen mit 1,06 Prozent des BIP an der »kurzen Leine« (iwd 16/03) und liegt damit auf Rang 15 knapp vor Portugal. Trotz chronischer Unterfinanzierung, die sich aktuell durch die Sparauflagen noch verschärft hat, wird gleichzeitig der Leistungsdruck auf die Universitäten mit dem neuen HochSchG-RP verstärkt. Man kann es auch anders formulieren: Durch planwirtschaftliche Bürokratisierungen bis in die universitären Freiheitsbestände hinein sucht man die Unterausstattungen der Universitäten abzufangen. Das ist so, als wenn man schwach ernährten Marathonläufern dadurch schnellere Beine zu verpassen suchte, daß man die Zahl überwachender Streckenposten erhöht, die den Läufern keineswegs ermunternd zurufen, sondern ihnen mit Sanktionen drohen. Geradezu höhnisch klingt das ›Laufmotto‹ von E. Bulmahn: »Ernstzunehmende Wissenschaft funktioniert nicht ohne offenen Geist« (FAZ Nr. 229/03, Seite 14).

Die hochschulpolitischen Reformbetreiber verschanzen sich hinter den ›Beschlüssen von Bologna‹. Diese propagieren, verkürzt gesagt, gemeineuropäisch fixierte und damit angeblich vergleichbare Studiengänge, was man mittels Standardisierungen und Akkreditierungen zu bewerkstelligen sucht. Das Konzept ist unter dem Beifall ›der Wirtschaft‹ begrüßt worden, zugleich aber auch auf heftige Kritik vor allem von Basisakteuren gestoßen. Wie einseitig funktions- und effizienzorientiert ›die Wirtschaft‹ (auch hier genauer gesagt: ihre Funktionäre) die Vereinheitlichung sieht, belegt die unsägliche BDA-Empfehlung ›Master of Education. Für eine neue Lehrerbildung‹ (Berlin 2003). Bildung denaturiert darin zur platten Ausbildung und der Lehrer wortwörtlich zur »Führungskraft«, vergleichbar einem Zweigstellenleiter einer Supermarktkette. Dreihundert Jahre schulische Bildungsgeschichte sind an Wirtschaftsfunktionären so unbeachtet vorbeigerauscht wie die über achthundertjährige Universitätstradition an reformhurtigen Hochschulpolitikern. Aus der Geschichte kann man bekanntlich nichts lernen, wenn man sie verachtet. Wie sehr die Bologna-Formel (einer dominanten, wenn nicht gar ausschließlichen) Ausrichtung der Studieninhalte an der beruflichen Praxis universitär in die Irre führt, ist schon daran zu erkennen, daß es für zahlreiche Studiengänge (Anglisten, Germanisten, Musikwissenschaftler usw.) keine speziell anschlüssigen Berufsbilder gibt, zumal diese außerdem noch einem beschleunigten Wandel unterliegen. Die Bologna-Formel opfert die primäre Quelle für die universitäre Lehre (das ist die Forschung) dem Wechselbalg der dynamischen Berufswelt und führt zur Niveausenkung und Verunsicherungen. Wie schon dargelegt: Den Betroffenen gelingt die Einführung in spezielle Berufssparten umso leichter, je forschungsorientierter und je offener die parallele, berufsfeldbreite Fachausbildung angelegt ist. Diese gewiß nicht neue Einsicht (vgl. meine Publikation: Berufsbildungspolitik, Heidelberg, Berlin, New York 1981) verweht im aktuellen Gesetzeswind.

Was die so hochgepriesenen Qualitätssicherungssysteme angeht, so lohnt sich ein kurzer Blick auf die Schweizer Praxis. Um die beiden Hauptziele der Bologna-Reform (Mobilität zwischen den Ländern und Konkurrenzfähigkeit der Hochschulen), die bis zum Jahre 2010 umzusetzen sind, zeitgerecht zu erreichen, hat die Berner Regierung erhöhte Ressourcen bereitgestellt. Die Schweizer Hochschulen ihrerseits haben sich verpflichtet, mit der Umstellung bis spätestens 2005 zu beginnen; in diesem Zieljahr sollen 90 Prozent der Erstsemester nach neuen Bachelor- und Masterstudiengängen ihr Studium beginnen. »Während (jedoch) in Deutschland geplant ist«, schreibt die NZZ 221/03, Seite 11), »alle Studiengänge einzeln einer Akkreditierung zu unterziehen, wird in der Schweiz behördlicherseits nur darauf geachtet, daß die Universitäten die als ihre Sache geltende Qualitätssicherung wahrnehmen«. Bezeichnend ist weiterhin, daß die organisierte Schweizer Studentenschaft die Bologna-Reformen mit dem Argument ablehnt, es handle sich um »einen Prozeß von oben nach unten«.

Über Sinn und Unsinn einer Qualitätssicherung an Hochschulen wird seit Jahren in unzähligen Beiträgen gestritten. Das neue HochG-RP sieht in § 5 vor: »Die Arbeit der Hochschulen in Forschung und Lehre einschließlich der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses sowie der Erfüllung des Gleichstellungsauftrags soll regelmäßig unter Mitwirkung der Frauenbeauftragten gemäß § 72 Abs. 4 bewertet werden. Die Studierenden sind bei der Bewertung der Qualität der Lehre zu beteiligen. Die Ergebnisse der Bewertungen sollen veröffentlicht werden. Die Hochschulen entwickeln Verfahren zur Sicherung der Qualität in Forschung, Studium und Lehre.« Daß auch Hochschulen ihre Arbeit bewerten (lassen) müssen, ist unstrittig. Entscheidend ist freilich: Wer bewertet? Mit welchen Maßstäben und Verfahren wird bewertet? Wie handhabt man Sanktionierungen? Nur als qualitätssteigernde Steuerungsmaßnahmen? Paul Kirchhoff hat die Gefahren für die Hochschulautonomie zusammenfassend so rekapituliert (in Forschung & Lehre 5/2003): Über Organisation, Verfahren und Finanzmacht können die Freiheitsvoraussetzungen für Forschung und Lehre ebenso gefördert wie bedroht werden. »Forschungsfreiheit ist heute weniger durch Verbot gefährdet, sondern durch finanzielles, verfahrensrechtliches, organisatorisches Aushungern« (a.a.O., S. 236; Hervorhebungen: E.D.).
Die Universitäten haben sich vom politisch-technokratischen Betreibungswillen in eine z.T. selbstverschuldete Gefährdungslage hineinmanövrieren lassen: Die Qualität ihrer Forschungs- und Lehrleistungen hängt nämlich zuallererst von primären Sicherungsverfahren ab (Promotion, Berufungsstandards, Maßstäbe der Wissenschaftsgemeinde usw.) und weniger von nachhinkenden sekundären Evaluationen. Berufene Professoren mit geringer Forschungsleistung und schlechter Lehre lassen sich mittels noch so eifrigen Bewertens kaum mehr auf das gewünschte (verpaßte) Niveau bringen. Kirchhoff benennt die alles entscheidende Autonomiefrage: »Die Universität ist eine Wissenschafts-, keine Erwerbseinrichtung. Der Wettbewerb unter Wissenschaftlern meint den Verantwortungs-, nicht den Erwerbswettbewerb. Der Wettbewerb der Forscher und Lehrer zielt auf Ansehen, Einfluß und Forschungsressourcen, weniger auf Einkommen und Ertrag« (a.a.O., S. 239).
Genau dieser autonome Verantwortungswettbewerb entzieht sich druckerzeugenden Marschbefehlen, gleichgültig, ob sie von betreuungsstaatlichen Stellen oder von ›privaten‹ Akkreditierungsagenturen ausgehen. An Marschbefehlen ist das HochSchG-RP nicht gerade arm. Über Auswüchse der Akkreditierung bringt Wolfgang Kemp seine Leser auf den neuesten Stand der vielfach aberwitzigen Prämissen (FAZ Nr. 259/03): Es werden »Hunderttausende hochbezahlte Stunden von Gremienarbeit aufgebracht werden müssen. Es gibt dafür neue Zwänge, neue Scheren im Kopf, neue – das darf man ja vielleicht auch mal sagen – Strukturen, die nicht demokratisch rückgebunden sind. Der HIS-Peer-Leitfaden läßt die Gutachter über sechzig Fragen an das ›Objekt‹ abarbeiten: ›Haben die Absolventen das Lernen gelernt – in dem Stil. Wie sagt der Engländer: Behind a devil is always another devil.«

Zur Qualitätssicherung und Wettbewerbssteigerung jonglieren die Reformer neben der Akkreditierung mit einem zweiten Zauberstab. Den Wissenschaftsrat im Rücken, dessen Gutachterpraxis nicht immer überzeugt (vgl. oben), haben die Reformer den kleinen und mittleren Instituten den Kampf angesagt, weil Kleinteiligkeit angeblich einem wissenschaftlich effizienten Arbeiten im Wege stünde. Unter Druck (vgl. ebenfalls oben) werden Institute aufgelöst und in sog. Mehr-Fächer-Einheiten integriert. Dabei kann das Auflösungsverfahren überstürzend durchgeführt werden – wie im Falle meines Instituts, das ich in mehr als dreißigjähriger Arbeit aufgebaut und profiliert habe. Die Institutsangehörigen erfuhren an einem Freitagnachmittag: Ab Montag wären sie Mitglieder eines neuen Großinstituts, das allerdings über noch keine Geschäftsordnung verfügte und dessen Leitungsstruktur unbekannt war.

Das Phänomen der Institutszerschlagung scheint ein bundesweiter Reformersport zu sein. Die Philosophin Dorethea Freede (Hamburg) fragt sich besorgt, ob damit noch »ein sinnvolles Lehrprogramm und wissenschaftliche Standards« zu halten seien, da die »Studenten sich in einem amorphen Gebilde zurechtfinden« müßten (FAZ Nr. 82/03, S. 35). Triebmittel solcher organisatorischer Eingriffe, die nach P. Kirchhoff die Wissenschaftsfreiheit »fundamental bedrohen können« (vgl. oben, S. 236), ist der Verweis auf die Wunderkraft der Interdisziplinarität: »Die hohen Erwartungen an die ›Interdisziplinarität‹ in Forschung und Lehre markieren einen seltsamen deutschen Sonderweg. Es fehlt jede Einsicht, daß die Götter vor die Interdisziplinarität die Disziplinarität gesetzt haben. Um über den Tellerrand schauen zu können, braucht man zunächst einen Teller. Das vorgeschlagene Kürzeststudium läßt vor lauter Rändern keine Teller mehr erkennen. Die Akzeptanz in der Wirtschaft für Bachelor-Chemiker, -Volkswirte oder -Informatiker, die das eigentliche Fach nur in den letzten beiden Semestern ›vertieft‹ haben, dürfte gegen Null gehen. Vor allem besteht keine Aussicht auf internationale Anerkennung derartiger Abschlüsse« (Freede, D.: Einmal englisch durchgebraten. Was deutsche Universitäten an Reformunfug blüht: Hamburg als Exempel, in: FAZ Nr. 82/03, S. 35).

Mißt man den durch das neue HochSchG auch in Rheinland-Pfalz in Gang gesetzten »Systemwechsel« (Zöllner) daran, was wohl die Mehrheit der Studierenden und Professoren davon halten, so vernimmt man Signale wie »bedingungsloser Kotau vor dem Zeitgeist« (Prof. Dr. Th. Hering, Hagen) oder »Sprechblasen… unter dem Deckmantel der Internationalisierung« (Prof. Dr. H. Corsten, Kaiserslautern). Eine Reform ohne Überzeugung der Zwangsreformierten hat nach aller historischen Erfahrung keine gute Zukunft.
©Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, aus: www.walthari.com

Epochengestalten

22. November 2013

Giovanni Boccaccio

gest. 1375

Vor siebenhundert Jahren wurde er geboren – man kann es kaum glauben angesichts der Frische seines Decamerone. Unehelicher Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns, Kindheit in Florenz, Banklehrling in Neapel, Jurastudent dortselbst und fleißiger Leser antiker Literatur. 1441 Rückkehr nach Florenz, wo er die Pestepidemie 1348 überlebte, die als Rahmenhandlung seines Dekamerone diente. Sieben Frauen und drei Männer haben sich zehn Tage (gr. deka – zehn; hemera – Tag) zurückgezogen und erzählen sich nach thematischen Vorlagen aufregende Geschichte: groteske, ironische und schlüpfrige, allesamt Milieuschilderungen. Zuvor hatte der zum Diplomaten gewordene Dichter eine Petrarca-Biografie geschrieben und danach eine Dantebiografie. In einer Kirche begann er im Alter eine Lesereihe aus Dantes Göttlicher Komödie.

Der Freund Petrarcas gab vor, in Paris gezeugt worden zu sein, als sich sein Vater mit einer Tochter des französischen Königs eingelassen haben soll. Das erleichterte ihm den Einstieg in die Hofgesellschaft Neapels. Florenz war noch nicht die glanzvolle Stadt des Humanismus und der Renaissance, das 14. Jahrhundert gehört noch zum Mittelalter, dem allerdings das neapolitanische Königshaus ein glanzvolles Schlußlicht aufsetzte. Boccaccio stieg zum Berater der Königs auf und benutzte dessen große Bibliothek für seine Studien. Nach dem Tod seines Vaters übernahm er dessen Kontor, ohne allerdings sein gesellschaftliches Leben und das Lesen und Schreiben zu vernachlässigen.

Eine Bankenkrise zwang ihn zum Jahreswechsel 1340/41 zurück nach Florenz, wo er öffentlich tätig wurde und von der Stadt mit diplomatischen Missionen häufig unterwegs war, so zum Papst nach Avignon. Dem Dekamerone liegt eine komplizierte Struktur…
© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

5. Oktober 2012

Bernard Bolzano

geb. am 5. Oktober 1781 in Prag, gest. am 18. Dezember 1848

Über einhundert Jahre hat es gedauert, bis der Sohn eines italienischen Kunsthändlers und einer Prager Kaufmannstochter unter Mathematikern zu Ruhm gekommen ist. Die Mengenlehre Georg Cantors z.B. hat von Bolzano profitiert, der zugleich als Theologe und Philosoph tiefe Spuren hinterlassen hat, die nur unter Fachleuten bekannt sind. Mit 24 Jahren wurde er zum katholischen Priester geweiht und im gleichen Alter zum Professor für philosophische Religionslehre ernannt. Seine rationalistische Religionsauffassung führte auf Betreiben Wiens zur Amtsenthebung, was sich als Glücksfall für die Mathematik und Philosophie erwies; denn 22 Jahre lang arbeitete er als Privatier in Südböhmen. Erst 1841 kehrte er als Sekretär der mathematischen Abteilung der Königlichen Böhmischen Gesellschaft nach Prag zurück. Philosophisch variierte er Kant mit dem Satz: »Wähle von allen die möglichen Handlungen immer diejenige, die, alle Folgen erwogen, das Wohl des Ganzen, gleichviel in welchen Teilen, am meisten befördert.« Religionsphilosophisch vertritt er eine rationalistische Glückslehre, die ihn als einen der Urväter der instrumentellen Religionsauffassung im kritischen Rationalismus ausweist, ihn aber zugleich außerhalb der biblischen Offenbarungslehre stellt. ›Von dem besten Staat‹ lautet der Titel einer kleinen Schrift, worin er sozialutopische Vorstellungen entwickelt.
© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer – Aus: www.walthari.com

29. August 2011

John Locke

geb. am 29. August 1632 in Wrington, gest. am 28. Oktober 1704 in Oates

Der heut vor 379 Jahren geborene Philosoph hat wie nur wenige andere die Geistesgeschichte Europas geprägt. Auf ihn geht die Trennung von Staat und Gesellschaft zurück, die sich in den aufgeklärten Verfassungen niederschlug und deren Mißachtung eines der politischen Grundübel unserer Epoche ist. Der Gesellschaft ein weitgehend autonomes Recht auf Selbstorganisationen einzuräumen war eine der Grundideen des englischen Enzyklopädisten. Nur so bleiben Staaten stabil, wobei die Herrscher ihre Legitimation von der Gesellschaft einholen müssen und nicht umgekehrt, wie es modern weitgehend der Fall ist. Denn der ›moderne Staat‹ hat in raffinierter Weise die Gesellschaft von sich abhängig gemacht (mit Subventionen usw.).

Wie schon vor ihm Thomas Hobbes, lehnte John Locke eine universitäre Dauerstellung ab und beschäftigte sich privatim mit Medizin, Mathematik, Pädagogik, Theologie, Philosophie, kurz: mit allen Disziplinen (daher Enzyklopädist) und war zudem als Arzt, Erzieher, Politiker, Diplomat und Geschäftsmann tätig. Wissenschaft und Philosophie entsprangen für ihn aus dem praktischen Tätigsein. Seine Idee vom bürgerlichen Subjekt und von der Volkssouveränität prägte die europäische Aufklärung insgesamt und schlug bis in Lessings ›Nathan‹ und Schillers ›Don Karlos‹ durch. Nach. J. Locke müssen Subjekte sich selbst verantworten: ökonomisch und politisch. Kants berühmtes Mündigkeitsdiktum vom 5. Dezember 1783 (»Aufklärung ist…«) fußt auf Lockes liberalistischem Konzept, das…

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13. Juli 2009

Hans Blumenberg

geb. am 13. Juli 1920 in Lübeck, gest. am 28. März 1996 in Altenberge

Der Philosoph wäre heute 89 Jahre alt geworden. Ich habe ein halbes Dutzend seiner Bücher studiert und staune darüber, daß ich auf keine Texte über die Person gestoßen bin. Er war kein sog. Öffentlichkeitsintellektueller und erreichte daher außerhalb der Bildungselite keine größere Bekanntheit. Nachdenklichkeit im Stillen, um den Kairos zu erhaschen, fern allem Arenalärm analytisch-mechanistischen Denkens. Geschichte und Judentum bleiben lebenslang Zentren. Seit 1960 Universitätslehrer an verschiedenen Orten. Statt großer Systeme scharfsinnige Untersuchungslinien, auch im ironischen und anekdotischen Tonfall. Daß die technische Zivilisation die Erde ruiniert, hat ihn ebenso beunruhigt wie die Bildungs- und Geschichtsauszehrungen. Geschichts- und Sprachphilosophie fallen bei ihm ineins. Vier Schriften zur Metaphorologie, um verborgene Sinnmitteilungen bloßzulegen. Die metaphorische Methode versteht sich als Widerpart zur technizistischen Erzwingung der Sache. Was sind schon die Müllberge der empirischen Methode gegen die »absolute Methapher«, die in eine bleibende Grundvorstellung über historische Einheiten eingepackt ist. »Stellrahmen« statt Statistik. Jene zu orten, bringt Ordnung. Sinn birgt der Mythos, dem Blumenberg durch »Arbeit« offenbar werden läßt, in Begleitung von Schelling und Heidegger vor allem. Sie alle blicken in die polytheistische Welt der altgriechischen Götter, die bis heute den mythischen Teppich des Abendlandes mitflechten. Dabei garantiert »Bedeutsamkeit« gegenüber der »Benommenheit« (in den Mythen und in der Härte der Wirklichkeit) ein freies Leben. Mit Gedanken über »Lebenszeit« und »Weltzeit« verabschiedete sich Blumenberg. In der Geschichte sah er »auch das Entkräftete immer noch als potentielle Anamnesis«.
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11. Februar 2009

Hans-Georg Gadamer

geb. am 11. Februar 1900 in Marburg/Lahn, gest. am 13. März 2002 in Heidelberg

Das Leben des Heidegger-Schülers deckt ein ganzes Jahrhundert ab. Sein Hauptwerk ›Wahrheit und Methode‹ (1960) wirkt weit über die Philosophie hinaus, weil darin der universale Aspekt des Verstehens in den ›Räumen‹ der Sprache und Tradition beschrieben wird, der alle Wissenschaften, insbesondere aber die Geisteswissenschaften betrifft. Im Prüfrahmen dieser Hermeneutik werden Verstand und Vernunft gezähmt, d.h. ihr Geltungsanspruch an der kulturellen Entwicklung (seit der Antike) gemessen. Gadamer studierte in Breslau und Marburg u.a. bei Martin Heidegger, Paul Natorp und Nikolai Hartmann. Nach Habilitation und Privatdozentur wurde er 1937 zum Professor ernannt, lehrte ab 1939 in Leipzig und ging während des Krieges in die innere Emigration. 1946/47 wurde er Rektor in Leipzig, 1947 Nachfolger von Karl Jaspers in Heidelberg. Hegel, Schleiermacher, Dilthey und Husserl stehen im Mittelpunkt seines Interesses, daneben Hölderlin, Goethe und Rilke, die seine Kunstauffassung beeinflußten. Hermeneutik überschreitet die Interpretationsgrenze von Texten und wird zur Bedingungsanalyse für Verstehen unter verschiedenen historischen Horizonten. Seine Hauptthese lautet: Tradition ist nicht vorschnell als feste Größe zu begreifen, vielmehr produktiv zu erschließen für offene Möglichkeitssichten – jeweils im ›Raum‹ der Sprache als unhintergehbarer Horizont.

Diese Auffassung mußte ihn in Konflikt mit linken Ideologien und aufgeklärt sich wähnenden Geschichtsphilosophien bringen, die auf Traditionsbrüche und absolute Vernunftgläubigkeit ausgerichtet waren. Enttäuscht vom geistigen Klima der 70er Jahre in Deutschland wandte sich Gadamer zunehmend dem Ausland zu, lehrte in den USA und in Paris. Seine ›Gesammelten Werke‹ (1995 abgeschlossen) sind eine solide Basis für die Fortsetzung einer außerordentlichen Wirkungsgeschichte.

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8. Februar 2009

Diadochus Proklos

geb. am 8. Februar 412 in Konstantinopel, gest. am 17. April 485 in Athen

Mit der gegenwärtig verstärkten Rückbesinnung auf die deutschen Mystiker wird der Name Proklos auch für Nichtphilosophen zum Begriff. Meister Eckhart und sein Schüler Heinrich Seuse haben sich auf den byzantinisch-hellenistischen Platoniker berufen und gerieten ins Visier der Kirche (die Schriften Eckharts wurden verurteilt, Seuses akademische Karriere verhindert). Proklos hat in Alexandria studiert und wurde 447 Leiter der Platonischen Akademie in Athen. Über sein Leben weiß man zuverlässig nicht viel. Seine Schüler waren von seiner Lehrart begeistert, fürchteten aber wohl gleichzeitig seinen streng geregelten Tagesablauf. Die von Proklos geprägte Trias der Wirklichkeit wirkt bis in die Gegenwart nach: das Eine ist absoluter, universaler »Grund« von allem, geschieden von allen anderen Wirklichkeiten (absolute Transzendenz, unsagbar, allenfalls negativ zu bestimmen). Aus dem Einen entfalten sich über Zwischenformen der Vielheiten in Richtung Leben und Geist. Alle Wirklichkeitsformen bleiben kreishaft verbunden, so daß der »Grund« in allem Anderen anwesend bleibt, nicht freilich als pantheistische Identität, sondern als All-Einfassung. Jede Wirklichkeitsstufe hat ihren eigenen ontologischen Status und steht dennoch in einer dynamischen Korrelation zu jeder anderen Stufe. Die Rückbindung an das Eine erlaubt es dem Menschen, den »Grund« in sich selber zu entdecken und damit auch seinen transzendentalen Ursprung, wenigstens in zeit-freien punktuellen Momente (ekstatisches Innesein). Für Proklos ist die Philosophie nichts anderes als der Weg zum Einen, das auch schon irdisch geahnt und geschaut werden könne. Damit entmythologisiert Proklos die griechische Götterwelt, die nunmehr als bloße Allegorie erscheint; andererseits re-mythologisiert er Leben und Denken auf einen monotheistischen Grund zu, der kultisch erfahren wird. Seine Philosophie stellt er vor allem in Kommentaren zu Platons Dialogen vor. Thomas von Aquin machte Proklos kirchlich hoffähig. Albertus Magnus und Meister Eckhart dachten ebenso proklisch wie Heinrich Seuse, Johannes Tauler und Nikolaus von Kues (»das Eine in uns«). Auch Schellings und Hegels (nach Feuerbach der »deutsche Proklos«) Weltsysteme fußen auf der Triade des spätantiken Denkers.

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7. Januar 2009

Christian Garve

geb. am 7. Januar 1742, gest. am 1. Dezember 1798

In Breslau geboren und gestorben, erscheint der als Popularphilosoph geschmähte Meditationsdenker in jeder Hinsicht als provinziell. Aufgabe der Philosophie sei es, Lebenshilfen zu geben und sich nicht zu sehr in abstrakten Spekulationen zu ergehen – eine Spitze gegen Kant. Seine Philosophieprofessur in Leipzig mußte Garve aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Verarmt lebte er bis zu seinem Tod in seiner Geburtsstadt, wo er sich mit Übersetzungen (Edmund Burke, Adam Smith, Cicero u.a.) über Wasser hielt. Unter dem Einfluß von Kant u.a. blieb Garves Anstoß zu mehr Empirie und Pragmatismus in Politik und Gesellschaft ungehört, zumal er den Fürsten ein machiavellistisches Verhalten zubilligte und damit gegen den aufkommenden Zeitgeist (um 1789) verstieß. Vom Gesichtskrebs schwer gezeichnet, schrieb er bemerkenswerte Bücher: ›Über die Geduld‹ (1792), ›Über Gesellschaft und Einsamkeit‹ (1797/98) und ›Übersicht der vornehmsten Prinzipien der Sittenlehre‹ (1798). Garve zählt zu den fast gänzlich vergessenen Denkern im deutschen Geisteshaushalt. Daß er höfisch geprägten Umgangsformen sympathischer gegenüberstand als bürgerlichen Direktheiten, hat ihn seit zweihundert Jahren nicht nur in seiner Zunft entfremdet.

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Hermann Samuel Reimarus

geb. am 22. Dezember 1694 in Hamburg, gest. am 1. März 1768 in Hamburg

Der Orientalist gehört ins Pantheon deutscher Gelehrsamkeit. Lessing lobte ihn als »wahren gesetzten Deutschen«, weil er seine »Gesinnungen« gerade heraussage und den »Beifall seiner Leser« nicht zu »erschmeicheln« suchte. Reimarus löste den brisantesten Religionsstreit im 18. Jh. aus. Nach dem Studium der Philosophie, Theologie und Philologie unternahm er Bildungsreisen nach Holland und England (die Italienmode war noch nicht angebrochen) und wurde Rektor zuerst in Wismar, dann (auf Lebenszeit) am Hamburger Johanneum. Zugleich übernahm er den Vorsitz der ›Hamburgischen Gesellschaft zur Beförderung der Kunst und nützlichen Gewerbe‹. Reimarus vertrat den englischen Deismus, der Gott aus Vernunftgründen statt aus Offenbarungen annahm und allen denkenden Menschen zugänglich sei. Diese Auffassung vertrat der gläubige Protestant in seiner erst posthum veröffentlichten, anonymen Schrift »Fragmente eines Ungenannten‹ (auszugsweise zwischen 1774 und 1777 veröffentlicht). Die darin geäußerte Bibelkritik löste »nicht Geringeres als einen Hauptsturm auf die christliche Religion« aus, wie Lessing schrieb, wodurch sein berühmter Streit mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze ausgelöst wurde. Aus dem Wortkampf zwischen kirchlicher Orthodoxie und Aufklärung gingen Lessings wirkungsmächtigen Polemiken hervor. Von Reimarus gehen wichtige Impulse für die Bibelexegese aus. In der langen Diskussionslinie zum Verhältnis von Vernunft und Religion nimmt Reimarus eine herausragende Stellung ein. Albert Schweitzer und Rudolf Bultmann wurden von ihm beeinflußt. Wenn Papst Benedikt XVI. das Thema in die Mitte seiner Theologie rückt, weiß kaum jemand, welche Vordenkerrolle Reimarus gespielt hat. Schon Lessing nannte ihn einen »bekannten Unbekannten«.

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Jacques Lacan

geb. am 13. April 1901 in Paris, gest. am 9. September 1981 in Neuilly

Arzt und Psychiater, als Guru bewundert und auch zum Harlekin erklärt. Wollte die Psychoanalyse nicht mehr nur als Therapie verstehen, sondern auch als neue Philosophie. die um Hegel kreist. Auf vielen anderen Wissenschaftsgebieten aktiv: Soziologie, Ethnologie, Linguistik, Literaturwissenschaft u.a. Großen Einfluß auf den Poststrukturalismus. Zeitlebens ein unruhiger Geist, den man aus Fachvereinigungen ausschloß, der aber eine herrschende Denkströmung in Frankreich (Lacanismus) auslöste, obschon seine Schriften schwer lesbar sind. Meister der Selbstinszenierung. Jesuitenschüler, Freundschaft mit Künstlern und aneren Zeitgrößen. Erfinder der Theorie des Spiegel-Ichs (vgl. WALTHARI-Heft 50). Wollte tatsächlich eine »psychoanalyse à la française« begründen, gestützt auf die These, daß das Unbewußte ein Produkt der Sprache sei und ausschließlich über diese erfahrbar. Lacan wird in Deutschland oft zitiert, aber wenig gelesen.
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Arnold Gehlen

geb. am 29. Januar 1904 in Leipzig, gest. am 30. Januar 1976 in Hamburg

Seine Verwicklungen im Nationalsozialismus erschweren bis heute eine objektive Rezeption. 1933: Mitglied im NS-Dozentenbund, 1940: sein Hauptwerk ›Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt‹, worin die NS-Ideologie legitimiert wurde (ab der 4. Auflage umgearbeitet). Dennoch, so das mehrheitliche Philosophenurteil heute, bleibt Gehlen in der Sache eine bedeutende Epochengestalt, weil er auf existenzielle Fragen bedenkenswerte Antworten gibt. Seine philosophische Anthropologie kreist um drei Fragen: Wie kann man Philosophie ohne Metaphysik betreiben? Wie lassen sich Philosophie und empirische Wissenschaften verbinden? Womit schafft man Lebensorientierungen? Gehlen bereichert wirkungsmächtig die Ethik, Ästhetik, Soziologie und Sozialpsychologie und gilt als einer der Väter der Kulturwissenschaften. Er veränderte die Sicht auf das menschliche Bewußtsein, das nach dem cartesianischen Dualismus dem Körper gegenübergestellt war. Nach Gehlen ist es jedoch ein aus dem Handeln abgeleitetes Phänomen, also ein Prozeßergebnis. Bewegungen und Überlegungen fallen in eins. Handlung, nicht Bewußtsein ist dabei erkenntnisprimär: »Der Mensch ist das handelnde Wesen.« Damit wird eine Brücke von den empirischen Wissenschaften zur Philosophie hergestellt, die mit der aktuellen Hirnforschung neue Aktualität gewinnt. Zusammen mit der biologischen Verhaltensforschung seiner Zeit (Adolf Portmann u.a.) arbeitet Gehlen spezifisch menschliche Entwicklungen und Eigenschaften heraus, so mit dem Begriff des Mängelwesens, der Instinktreduktion, der Unspezifität und der Retardierung. Damit greift Gehlen auf Herder und Nietzsche (der Mensch als »nicht festgelegtes Tier«) zurück. Zum Ausgleich besitzt der Mensch das Wunderorgan Gehirn, das ihn überleben laßt durch Lernfähigkeit und intelligente Anpassung. Die Menschen streben Entlastung an, indem sie Institutionen bilden und sich die Natur dienstbar machen. Daraus resultiert der Dauerkonflikt zwischen Kultur und Naturbewahrung, ebenfalls ein hochaktuelles Thema. Für Gehlen sind Triebüberschuß und Plastizität (Weltoffenheit) stets auch kulturelle Gefährdungsmomente. Mit seinem Reduktionsbild sieht er den Wohlfahrtsstaat voraus. Seine Kritik an der Hypermoral (›Moral und Hypermoral‹, 1969) prognostiziert das Scheitern des ethischen Universalismus’, weil dieser die familiäre Sympathie ins diffuse Globale überdehnt. Hellsichtig auch der sozialdarwinistische Hinweis im Verhältnis von Staat (Institutionen) und Gesellschaft. Gehlens Institutionenlehre favorisiert den Staat als Ordnungshüter und wirkt in Luhmanns Systemtheorie nach, zum Ärger der sog. Frankfurter Schule. Institutionen bieten Entlastung und Orientierung, neigen aber zur bürgerlichen Entmündigung, was Gehlen nicht deutlich wahrnimmt, im Gegenteil: Der Mensch erscheint ihm als »das Wesen der Zucht«, das von außen zu ›züchtigen‹ sei statt von innen durch Lern- und Reifeprozesse. Da offen ist, ob die Mehrheit der Menschen zur Binnenleitung überhaupt fähig ist, richtet die Reizüberflutung und technische Versuchung gesellschaftlichen Schaden an, der durch die erweiterten Möglichkeiten noch gesteigert wird und zur »Übersteigerung der Subjektivität« führt, woraus die bekannte »Primitivisierung« (Boulevard) entsteht. Der Mangel an Binnenhalt zwinge zum harten institutionellen »Außenhalt«. Gehlen liefert eine Reihe weiterer Analysen, die von starker Wirkung sind, so im Rahmen seiner Kunstkritik (›Zeit-Bilder‹, 1960) und Kristallisationsthese, nach der es einen historischen Zeitpunkt gibt, ab dem alle kulturellen Möglichkeiten durchgespielt sind und ein Untergang unausweichlich ist. Insgesamt ist das Gehlen’sche Anregungspotenzial enorm und allermeist aktuell geblieben, aber infolge des NS-Schattens unausgeschöpft, weil unter Dauerverdacht. Überreichlich ausgebeutet hat ihn die modische Handlungstheorie, die, zeitkorrekt imprägniert, ihn kaum zitiert. In der Sache widerspricht seine Subjektivitätskritik der methodisch-biologistischen Handlungsauslegung.
© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

19. Januar 2008

Auguste Comte

geb. am 19. Januar 1798 in Montpellier, gest. am 5. September 1857 in Paris

Mitarbeiter des Grafen Saint-Simon, Vertreter des Dreistadiengesetzes (zur Entwicklung des Individuums und der Menschheit) und des Enzyklopädischen Gesetzes (beide längst widerlegt). Erfand die soziale Physik, die von nun an Soziologie hieß. Eine seiner wichtigsten Erkenntnisse: Die geistige Entwicklung des Menschen eilt seiner moralischen voraus, woraus sich Instabilitäten ergeben. Aufgabe der Zivilisation sei es, Ordnung und Fortschritt zugleich zu befördern. »In der positiven Philosophie sind Ordnung und Fortschritt die beiden untrennbaren Seiten desselben Prinzips.« Der Atheist Comte ließ sich katholisch trauen, glaubte an Naturgesetze auch im Sozialen. Chaotisches Privatleben, mit phasenweisem Aufenthalt in einer Irrenanstalt. Der Spezialist für Soziales vergriff sich bei der Wahl seiner Frau.1854 : ›Système de politique positive‹ (4 Bde.). Wagte Prophezeiungen, die sämtlich nicht eintraten, ihm aber unter seinen Anhängern dennoch den Status eines Hohenpriesters der Menschheit einbrachten. Auch im heutigen sozialwissenschaftlichen Betrieb eine gängige Referenzautorität.

Rudolf Fr. A. Clebsch

geb. am 19. Januar 1833 in Königsberg, gest. am 7. November 1872 in Göttingen

Einer der großen Unbekannten: Begründer der algebraischen Geometrie, die er mit der Funktionstheorie verknüpfte. Zuerst Realschullehrer, ab 1858 Professor in Karlsruhe, später in Gießen und Göttingen. Früher Tod durch Diphtherie. Mitbegründer der heute bestehenden ›Mathematischen Annalen‹ (seit 1868).

Johann E. Bode

geb. am 19. Januar 1747 in Hamburg, gest. am 23. November 1826 in Berlin

Bedeutender Astronom, Herausgeber eines Himmelsatlas’, führte die Abstandsregel der Planetenbahnen ein. Ab 1787 Direktor der Berliner Sternwarte. Der von W. Herschel 1781 entdeckte Uranus erhielt diesen Namen auf Bodes Vorschlag.

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

3. Januar 2008

Heraklit

um 500 v. Chr.

Über das Leben dieses Philosophen weiß man wenig, von seinen Schriften sind nur Fragmente erhalten. Schon in der Antike waren die Nachrichten über ihn spekulativ.: Sprößling einer aristokratischen Familie, er wurde vermutlich sechzig Jahre alt (ergibt sich aus Hinweisen auf Olympiaden). Er soll auf die Königswürde zugunsten seines Bruders verzichtet haben.

Bis heute ist Heraklit auf den Panta-Rhei-Spruch festgelegt, beginnend mit Platon. Doch der einfache Gedanke des Alles-Vergeht überdeckt andere Einsichten, so diese, daß eine Polis (Gemeinwesen) nur überleben kann, wenn seine Gesetze (nomoi) es erlauben, daß der Fähigste regiert. Als einsamer Mahner kritisierte der Philosoph Homer, Hesiod und Pythagoras, weil sie über Götter und Menschen zuviel Falsches berichteten. Über Homer: Man sollte ihn »von den Wettkämpfen ausschließen und ihn mit Ruten züchtigen«. Darin kann eine frühe Religionskritik gesehen werden.

Am nachhaltigsten wirkte im Altertum seine Naturlehre, deren Anhänger eine Schule bildeten (Herakliteer). Seine Schrift über die Natur soll er im Tempel der Artemis hinterlegt und dieser Göttin geweiht haben. Aus den überlieferten Fragmenten rekonstruiert man eine Natur- und Logoslehre, eine Kosmologie, Theologie, Politik und Ethik, die er sämtlich im Spruchstil (Gnomen) formulierte und ihm den Vorwurf der Dunkelheit eintrug. Beispiel: Das Fragment Nr. 53 spricht vom Krieg als »Vater Aller«, fälschlicherweise übersetzt als: Der Krieg ist der Vater aller Dinge.

Heraklit unterschied zwischen Streit (eris) und Krieg (polemos); solange ersterer als Wettbewerb angenommen wird, bereichert er die Polis – ein urdemokratischer Gedanke, den Heraklit auch in der Logoslehre aktiv sieht: der Widerstreit als Grundfigur der Vernunft, worauf sich später Schelling und Heidegger beziehen. Nietzsche war von der antiidealistischen Perspektive Heraklits beeindruckt. Insofern kann Heraklit als Vater der nüchternen Weltsicht gelten, die es gleichzeitig nicht versäumt, auf die verborgenen Strukturen der Welt zu achten. Dazu seien aber nur Wenige fähig.

Aus dem Widerstreitcharakter von Natur und Kultur leitet Heraklit den zentralen Gedanken des Ausgleichs ab, der sich ergibt, weil Gegensätze ein Gemeinsames haben. Nikolaus von Kues nahm später den Gedanken als Coincidentia oppositorum auf. Identität entsteht aus geheilten Differenzen, so in der Natur und unter den Menschen. Gerechtigkeit ist demnach ein Prozeßergebnis, kein festes Maß. Darauf verweist die berühmte Flußmetapher: »Denen, die in die selben (!) Flüsse hineinsteigen, strömen andere und wieder andere Wasserfluten zu« (Fragment 12).

Gott ist nach Heraklit das »ewige Feuer«, an dem die menschliche Seele Anteil hat und deshalb unsterblich ist. Weil aber das Höchste unbestimmt (unerkannt) bleibt (apeiron), ist es für die Menschen nicht ratsam, sich spekulativ daran zu binden. Diesen Abstand forderten die Epikureer später noch deutlicher. Zu dieser Haltung sind nach Heraklit nur wenige Menschen fähig, geben sich doch die »Vielen vollgefressen wie das Vieh« (Fragment 29).

»Esel mögen Spreu lieber als Gold.«
»Vermessenheit ist zu löschen mehr als Feuersbrunst.«
»Mehr als sichtbare gilt unsichtbare Harmonie.«
»Das Wesen der Dinge versteckt sich gern.«
»Der schönste Affe ist scheußlich im Vergleich zum Menschen.«
»Dem Blöden fährt bei jedem sinnvollen Wort der Schrecken in die Glieder.«
»Denn Hunde kläffen sogar an, wen sie nicht kennen.«
»Ich habe mir selbst nachgeforscht.«

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

1. Januar 2008

Christian Thomasius

geb. am 1. Januar 1655 in Leipzig, gest. am 23. September 1728 in Halle

Das historische Gewicht dieses Voraufklärers steht in krassem Gegensatz zu seiner allgemeinen Bekanntheit. 1691 veröffentlichte er seine ›Vernunftlehre‹, dessen erstes Hauptstück überschrieben ist: ›Von der Geschicklichkeit, die Wahrheit durch eigenes Nachdenken zu erlangen.‹ Das war rund einhundert Jahre vor Kants berühmter Antwort auf die Frage ›Was ist Aufklärung‹. Thomasius kämpfte gegen die »selbst verschuldete Unmündigkeit« (Kant) vor allem an der eigenen Universität, wo er provozierend als ›homme galant‹ und nicht im Talar auftrat und über Samuel Pufendorf Vorlesungen hielt – 1687 als erster in deutscher Sprache. Das war eine Kampfansage an das Monopol des Lateinischen. 1688 wehrte sich Thomasius gegen das Kesseltreiben der Kollegen, indem er eine Monatsschrift herausgab: ›Schertz- und Ernsthafter… Gedanken…‹ war die erste wissenschaftliche Zeitschrift in deutscher Sprache und die Vorgängerin des späteren Feuilletons. Akademische »Pendanterie und Heuchelei, die den Titel der Gelehrsamkeit und Tugend mißbrauchen«, widerten ihn an, ebenso die französische Zeitmode, die an den Höfen und Universitäten herrschte. Seinen berechtigten Spott mußte er mit einer Flucht nach Berlin (1690) bezahlen. Der preußische Friedrich III. richtete ihm eine Professur in Halle ein. Er wandte sich gegen die Herrschaft der Theologie über die Philosophie, forderte die Trennung von Kirche und Staat und wollte christliche Moral und profanes Recht getrennt wissen. Was Thomasius weiterhin so außergewöhnlich erscheinen läßt: Eigene Fehler gestand er öffentlich ein. Im Unterschied zu dem französisierenden Leipniz sah Thomasius in der deutschen Sprache und im Bürgertum seine geistige Heimat. In der heutigen Welt des Denglischen, der Modul-Pedanterie an den Hochschulen und der Bildungsheuchelei mangelt es an Gelehrten vom mutigen Schlag eines Thomasius.

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

21. Dezember 2007

Giovanni Boccaccio

geb. im Juni/Luli 1313 in Paris oder Certaldo, gest. am 21. Dezember 1375 in Florenz

Heute vor 632 Jahren starb in Florenz eine der größten Dichtergestalten des Abendlandes. Unehelich geboren, Banklehre in Neapel, Studium des kanonischen Rechts, des klassischen Lateins und der Literatur. Schon mit der ersten literarischen Arbeit (›Der Filostrato‹, 1337-1339) erweist sich Boccaccio als Vorbote des Humanismus. Wechselnde Aufenthalte in Florenz, Ravenna, Padua und Avignon, wohin der Papst von der französischen Krone gezwungen worden war. Auf der Flucht vor der Pest (ab 1348) schrieb er zwischen 1349 und 1351 die Novellensammlung ›Das Dekameron‹ (hundert Geschichten), die erst 1470 veröffentlicht wurden. Sieben Frauen und drei Männer sind vor der Pest aufs Land geflohen und erzählen sich im Laufe von zehn Tagen aufregende Geschichten. Jede Person hat einen Erzähltag zu einem vorgegebenen Thema. So entstehen Abenteuer-, Liebes- und Ehegeschichten usw. Berichtet wird realistisch-ironisch für »edle Frauen und Jungfrauen«, die kein Latein beherrschen.

»So wie die Torheit oft manchen um sein Glück bringt und ihn in tiefes Elend stürzt, so zieht den Weisen sein Verstand aus den augenscheinlichsten Gefahren und gewährt ihm vollkommene Ruhe und Sicherheit«. Giovanni Boccaccio, aus: ›Das Dekameron‹

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

21. November 2007

Schleiermacher, Fr. D. E.

geb. 21. November 1768 in Breslau, gest. 12. Februar 1834 in Berlin

Voltaire, d.i. Arouet, Fr. M.

geb. 21. November 1694 in Paris, gest. 30. Mai 1778 in Paris

Der Gegensatz zwischen den beiden Epochengestalten könnte nicht größer sein. Der Deutsche: Theologe, Philosoph, Prediger, einer der Referenzväter des Protestantismus. Zwei Ansprüche machten ihn populär: »Universalisierung der Humanität« und »Alle Menschen sind Künstler« (womit er J. Beuys um fast 200 Jahre vorwegnahm). Erzogen von der Herrnhuter Brüdergemeinde bei Görlitz, nach dem Studium zunächst Hauslehrer, danach Prediger an der Charité in Berlin, fleißiger Besucher von Salons, Bekanntschaft mit den Romantikern, Übersetzer der Dialoge Platons (ab 1804), Verfasser der berühmten ›Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern‹, die ihm den Vorwurf des Pantheismus einbrachte, weil er eine anthropologische Konstante beschrieb, die heute unbestritten ist (vgl. WALTHARI-Heft 49): Glauben können aus dem »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit« von einem unendlichen Absoluten. Aus dieser Selbstevidenz ergeben sich Freiheit und Sozietät. Nach Tätigkeiten in Stolp (Pommern) und Halle wieder in Berlin, wo er mit W. v. Humboldt die Universität begründete und ab 1810 als Professor tätig war. Gilt als einer der Väter der Hermeneutik.

Der Franzose: scharfer Religionskritiker, forderte eine natürliche Moral, die an der sozialen Relevanz zu messen sei; einer der geistigen Väter der Französischen Revolution (1789). Reisender in Sachen Vernunftreligion, die das Bürgerglück forderte, sich gegen den Adel und die kirchliche Dogmatik richtete, Zögling eines liberalen Jesuitenkollegs. Seine Spottlust brachte ihn mehrfach ins Gefängnis, wo er u.a. Theaterstücke schrieb. Einfluß Newtons. Mit seiner ›Abhandlung über die Metaphysik‹ prägte er entscheidend das Aufklärungsdenken im 18. Jh.: Gott müsse aus Vernunftgründen und aus der Erkenntnis der kosmischen Vorgänge angenommen werden, aber ohne Zusatzspekulationen (unsterbliche Seele u.a.). Seit 1750 am preußischen Hof, wo er die Freiheit des Redens genoß, die ihm am französischen Hof verweigert worden war. In seinem ›Dictionnaire philosophique‹ faßte er die Summe seines antichristlichen Denkens zusammen, das ihn als Deisten, nicht als Atheisten ausweist. Nach dem Tod des Preußenkönigs verspottete Voltaire auch seinen Gönner als ›Salomon des Nordens‹. Der Spötter nahm sich Gott und die Welt vor: Descartes, Rousseau, La Mettrie u.v.a. Er glaubte in der menschlichen Natur unveränderliche Gesetzmäßigkeiten gefunden zu haben, welche die Geschichte dirigieren wie die Naturgesetze die physikalische Welt. Unerklärlich, warum der Vernunftprediger die Existenz von Vernunftwahrheiten bestritt und die ›philosophie de l’histoire‹ dazu berufen sah, das Bürgertum aus den Fesseln der Theologie und des Absolutismus zu befreien. Neigung zum Determinismus. Rückzug nach Genf und Mitarbeit an der ›Encyclopaidie‹. Streit mit den Genfer Calvinisten. Durch Finanzspekulationen reich geworden, erwarb er auf der französischen Seite des Genfer Sees ein Schloß samt dazugehörigem Dorf und führte ein luxuriöses Leben. Zuletzt militanter Antiklerikalismus mit Ausrottungsaufrufen: ›Ecrasez l’inf?me!‹

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

15. November 2007

Albertus Magnus

Am 15. November 1280 starb Albertus Magnus in Köln. Seine Bedeutung für die kulturelle und geistige Entwicklung des Abendlandes ist kaum zu überschätzen und wurde schon zu seinen Lebzeiten erkannt. Den Beinamen ›der Große‹ vergab man lediglich an weltliche und geistliche Herrscher, und dabei häufig zu Unrecht. Daß man einen Wissenschaftler ›den Großen‹ nannte und heute noch so nennt, hat bei Albert seine Berechtigung.

Zur Vita: Vor 1200 im schwäbischen Lauingen/Donau geboren, als Sprößling einer ritterbürgerlichen Ministerialfamilie, die ihn zunächst zu weltlichen Studien nach Oberitalien schickte. Angetan von der religiösen Armutsbewegung, trat er 1223 dem jungen Dominikanerorden bei. Wirkungsstationen: Hildesheim, Regensburg (wo er als Bischof wirkte), Straßburg, Paris und Köln. 1245 Lehrstuhl in Paris, wo er mit seinem aristotelischen Programm begann, das er bis zu seinem Tod konsequent fortsetzte. Die Grundlinie dieses epochalen Vorhabens bestand darin, Philosophie und Naturwissenschaften nicht mehr der Offenbarungstheologie zu unterstellen, sondern der Vernunft, wie es Aristoteles gefordert hatte. Das war mutig und riskant, denn es widersprach der Weltschöpfungs- und Gotteslehre der Amtskirche. In dem Werk ›Summa de creaturis‹ werden Philosophie, Theologie und Naturwissenschaften von einander getrennt und einer je spezifischen Sichtweise unterstellt. Das war revolutionär, ebenso die Erkenntnis, daß Wissen und Glauben zwei verschiedene Weisen zur Erschließung (Erfahrung) der Welt sind. Damit nahm er die Lehre von Francis Bacon (1561-1626) um Jahrhunderte vorweg, auch Lehrstücke von Kant, Hegel u.a., ohne daß die epochalen Vorarbeiten angemessen gewürdigt wurden und bis heute werden. Obschon die Werke Aristoteles’ kirchenamtlich verboten waren, begann Albert mit einem Aristoteleskommentar. Sein Einfluß auf Meister Eckhart wurde an anderer Stelle in diesem WALTHARI-Portal geschildert. Ulrich von Straßburg: »Mein Lehrmeister, der Herr Albert, ehemals Bischof von Regensburg, war ein in jeglicher Wissenschaft geradezu göttlicher Mann, so sehr, daß er mit Recht als Staunen erregendes Wunder unserer Zeit bezeichnet werden kann.«

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer

Epochentexte

2. Januar 2008

Rechtfertigung der Emser Depesche

»Schon in der Tatsche, daß das französische Kabinett sich erlaubte, die preußische Politik über die Annahme der Wahl zu Rede zu stellen, und zwar in einer Form, welche durch die Interpretation der französischen Blätter zu einer öffentlichen Bedrohung wurde, schon in dieser Tatsache lag eine internationale Unverschämtheit, welche für uns nach meiner Ansicht die Unmöglichkeit involvierte, auch nur um einen Zoll breit zurückzuweichen. Der beleidigende Charakter der französischen Zumutung wurde verschärft durch die drohenden Herausforderungen nicht nur der französischen Presse, sondern auch durch die Parlamentsverhandlungen und die Stellungnahme des Gramont-Ollivierschen Ministeriums zu diesen Manifestationen. Die Äußerungen Gramonts in der Sitzung des gesetzgebenden Körpers vom 5. Juli:

›Wir glauben nicht, daß die Achtung vor den Rechten eines Nachbarvolkes uns verpflichtet zu dulden, daß eine fremde Macht einen ihrer Prinzen auf den Thron Karls V. setze… Dieser Fall wird nicht eintreten, dessen sind wir ganz gewiß… Sollte es anders kommen, so würden wir… unsre Pflicht ohne Zaudern und ohne Schwäche zu erfüllen wissen.‹

Schon diese Äußerung war eine amtliche internationale Bedrohung mit der Hand am Degengriff. Die Phrase: ›La Prusse cane‹ (Preußen kneift) bildete in der Presse eine Erläuterung zu der Tragweite der Parlamentsverhandlungen vom 6. und 7. Juli, die für unser nationales Ehrgefühl nach meiner Empfindung jede Nachgiebigkeit unmöglich machte.«

Aus: Otto von Bismarck: ›Gedanken und Erinnerungen‹, Kapitel ›Die Emser Depesche‹, Münchener Ausgabe 1962, S. 338 f.
WALTHARI-Zeitung

14. November 2007

Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?

»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben…«

I. Kant am 5. Dezember 1783, in: ›Berlinische Monatsschrift, S. 516.

Aus dem akademischen Leben

21. April 2018

Teil 45 der Artikelserie ›Aus dem akademischen Leben‹

Von Univ.-Prof. em. Dr. Erich Dauenhauer

Entgleiste Campuskultur. Die ehemalige US-Außenministerin und heutige Stanford-Professorin, Condoleezza Rice, beklagt die Gefahr, die von Political Correctness (PC) für die Universitäten ausgeht. PC bedrohe »die Existenz von Universitäten«, weil sie die Denkfreiheit beschränke und die Kreativität unterbinde. Eine Universität sei keine »Wohlfühlzone«, vielmehr gelte: »Niemand hat das Recht, nicht beleidigt zu werden.« Das zu sagen wagt an deutschen Unis niemand. Vielmehr sucht man den Juristen Thomas Rauscher, Professor an der Universität Leipzig, zu verjagen, weil er getwittert hatte: »Wir schulden den Afrikanern und Arabern nichts. Sie haben ihre Kontinente durch Korruption, Schlendrian, ungehemmte Vermehrung und Stammes- und Religionskriege zerstört und nehmen uns nun weg, was wir mit Fleiss aufgebaut haben.«

Koffeinwasser. Eine Studentin an der Uni Basel liest unter dem Titel ›Die gute Studentin trinkt Koffeinwasser‹ ihresgleichen kräftig die Leviten. Kalorienfreies Koffeinwasser zur Selbstoptimierung sei der „Renner«. Aushangtauglich.

Sprachverödung. Ein Großteil der Studierenden beherrscht die deutsche Sprache nur mangelhaft. Ein Großteil! Multiple Choice als eine der Ursachen. Aber auch die Lehrenden tragen zur Verkümmerung des Deutschen bei, indem sie immer häufiger auf das Englische umsteigen: in Vorbereitungspapieren für Vorlesungen und Prüfungen, mit Empfehlungen englischer statt deutscher Lehrbücher, mit langen englischen Passagen in Seminaren usw. Was dabei verlorengeht, hat Winfried Thielmann, Professor an der TU Chemnitz, dramatisch beschrieben: »Wird der deutschen (und der europäischen) Wissenschaft das Englische durchgehend verordnet, wird sich das angelsächsische Monopol, das bei den ›international refereed Journals‹ und den Zitationsindizes besteht, auch auf die gesamte Theoriebildung ausdehnen. Ausgerechnet der konkurrenzorientierte Wissenschaftsdiskurs wird sich in Europa dann so abspielen, dass angelsächsische Theorien und Terminologien autoritativen Status besitzen und Wissenschaft hierzulande dann bestenfalls noch in der Nachahmung besteht. Dies würde zu autoritätsbasierten Strukturen führen, wie sie für die Scholastik charakteristisch sind, und diejenige Pluralität verhindern, ohne die neuzeitliche Wissenschaft nicht denkbar ist. Damit sind diejenigen kanonischen Verhältnisse wiederhergestellt, denen man einst durch Mehrsprachigkeit entkommen ist: Scholastik statt Neuzeit.

Denkt man dies weiter, so ist man rasch bei einer Wissenschaftsdiktatur amerikanischer Prägung, die ihre Theorien, Termini und Traditionen weltweit durchsetzt und die Voraussetzungen dafür schafft, dass eine externe, das heißt andere (und eben auch anderssprachigen) Traditionen sich verdankende Kritik nicht mehr möglich ist« (FAZ v. 22. März 2018, S. 6).

Szientokratie. Die angelsächsische »Wissenschaftsdiktatur« (W. Thielmann) mit der Folge eingeschränkter Kreativität in anderen Sprachen hat zur Großprojektemanie außerhalb des angelsächsischen Dominanzmilieus geführt, um Defizite auszugleichen. Das wird vom »Kollaps der Fähigkeit zur Distanzahme« begleitet (vgl. Strohschneider, P.: ›Über Wissenschaft in Zeiten des Populismus‹, Festvortrag des DFG-Präsidenten am 4. Juli 2017, im Internet verfügbar).

Unliebsame Konkurrenten. Große Konzerne (VW u.a.) bieten Promotionsprogramme an, die sie selbst nicht erfüllen können, weil nur Hochschulen promovieren können. Um den Hohen Schulen Beine zu machen, benutzen sie Druckmittel: Drittmittel gegen Doktorväter. Die Konzerne geben vielfach den Kandidaten und das Thema ohne Absprache mit den Betreuern vor. Die »Unsitte der Kuckucksei-Promotionen« hat sich insbesondere bei Technischen Hochschulen eingeschlichen; sie untergräbt die Hochschulautonomie (vgl. HB vom 13. Dez. 2017, S. 10).

6. Mai 2014

Im 86. Semester

Teil 41 der Artikelserie ›Aus dem akademischen Leben‹

Von Univ.-Prof. em. Dr. Erich Dauenhauer

Der bekannte Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht (Stanford Universität) berichtet in ›Forschung & Lehre‹, Heft 4/2014, sicherlich zum Erstaunen seiner deutschen Kollegen: »Ich gebe eine gute Hälfte« (meines Institutsgeldes) »für Abend- und Mittagessen aus, bei denen wir ohne Zeitdruck, intensiv (und mit Kollegen und Doktoranden gerne auch über einer Flasche Rotwein) intellektuelle Problem diskutieren, an denen uns liegt.« Und die Universität erkenne keine Veruntreuung, weil es »zur Lebensform der ›Humanities and Arts‹« gehöre. »Ich beschreibe sie gerne als Kontemplation.« Darin sehe ich eine kollegiale Bestätigung meines Buches ›Die Universität als Lebensform und Reformopfer‹ (2002)

Kritikscheu. Angesichts institutioneller Abhängigkeiten im Bologna-Rahmen sei es nicht opportun, sich kritisch zu äußern, sagte mir vor Jahren ein Kollege, der mir vorhielt: »Als Emeritus können Sie sich eine offene Kritik erlauben.«. Der Kollege irrte: Auch schon vor meiner Emeritierung habe ich mich intern und extern hochschulpolitisch-kritisch geäußert (vgl. dazu die Buchveröffentlichung ›Dreißig Jahre Landauer Lehrstuhl‹, 2001)

Streitkultur. Das Juni-Heft/2013 von ›Forschung & Lehre‹ des Deutschen Hochschulverbandes (DHV) widmete sich ganz dem Thema ›Streitkultur‹. Erkennbar sah sich der Verband, dem über 28.000 Universitätsdozenten angehören, veranlaßt, an ein Wesensmerkmal von Wissenschaft zu erinnern. Er widersprach damit dem Selbstverständnis der HRK; diese versteht sich als »die (!) Stimme der Hochschulen«.

Im Jahre 2012 arbeiteten 688.000 Akademiker in Niedriglohnsektoren mit Stundenlöhnen unter zehn Euro brutto (Quelle: Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen). Frauen waren fast doppelt so häufig betroffen wie Männer. 191.000 Akademiker waren arbeitslos, während Handwerksgesellen allerorten gesucht sind und in der Regel das Mehrfache eines Mindestlöhners verdienen. Hat die Studienberatung versagt?

Die Regelstudienzeit wird bei zahlreichen Studiengängen stark verfehlt: mit rund fünfzig Prozent in der Erziehungswissenschaft und Psychologie, zu rd. zwei Dritteln in der Mathematik, in den Sozial- und Politikwissenschaften sowie in der Informatik. Insgesamt schlossen im Jahr 2012 nur 39,3 Prozent aller Hochschulabsolventen ihr Studium innerhalb der Regelstudienzeit ab (Quelle: Statistisches Bundesamt, interpretiert in: Campus/FAZ Nr. 5/2013). Diese Zahlen erstaunen angesichts des modulisierten Regelwerks.

Akademisierungswahn. Unter diesem Schlagwort hat der bekannte Philosoph J. Nida-Rümelin jüngst für Furore gesorgt und nebenbei ein Projekt der gleichmacherischen Bildungspolitik unterlaufen: das Studieren ohne Abitur; ein Meisterbrief genügt und sogar ein Gesellenbrief (nach zwei bis drei Jahren Berufserfahrung). Obschon das Projekt seit Jahren propagiert, liegt der Anteil nur bei 1,5 Prozent der 2,5 Mio. Studenten (2013, Statistisches Bundesamt). Die Politik gibt den Hochschulen die Schuld für den geringen Anteil und will ihnen im Hochschulpakt (der Großen Koalition) ›Meister‹-Beine machen. Noch eine Hochschulreform, die alles über den didaktischen Leisten ziehen will.

Doktor (FH). Die wegen Plagiatsvorwürfen zurückgetretene Bundesbildungsministerin Annette Schavan bezeichnete das autonome FH-Promotionsrecht als »Evaluation«. Der DHV-Präsident B. Kempen sieht die Universitäten »ihres Markenkerns beraubt«. Schon längst können Fachhochschulen in Kooperation mit Universitäten promovieren lassen, aber das genügt der Politik und FH-Lobby nicht. Der Dr. (FH) käme in der Tat einem Dammbruch gleich, weil damit das Promotionsrecht auch außerhochschulisch installiert würde (Wiss. Akademien, MPI’s usw.). Was bliebe dann noch den Universitäten als Alleinstellungsmerkmal?

Auf einer Professorentagung im März 2014 in Bonn lernte ich Stiftungsmodelle zur Wahrung wissenschaftlicher Nachlässe kennen. Auf dem Hintergrund eines Vorgangs, bei dem ein amtlich bestellter Testamentsvollstrecker den wertvollen Nachlaßbestand eines mir nahen Fachkollegen entsorgte, ohne zuvor Dritte zu informieren, war die Tagung lehrreich.

Eine Stiftung mit hohem Kapitalstock hinterließ einer meiner Fachkollegen. In die Verwaltung ist seine Universität satzungsgemäß eingebunden, die bei seiner Beerdigung… Bis heute fehlen mir die Worte.

Studienberatungen mit Eltern nehmen in Basel und zunehmend auch an anderen Universitäten zu. Hochschul-Reife der Studierwilligen?

Eine scharfe Abrechnung mit den OECD-Statistiken nahm Rainer Bölling (FAZ Nr. 73/2014, S. 6) vor. Er legte methodisch offen, was ich bildungspolitisch seit den 90er Jahren der OECD vorhalte (in: ›Berufsbildungspolitik‹, 4. Auflage): Sie verkennt den Stellenwert der dualen Betriebslehre, indem sie seit Jahrzehnten nur die Hochschulreife und den akademischen Abschluß als Fortschrittsmaßstäbe gelten läßt. Professorales Gegen-Geflüster: rund ein Dritte der Studierenden besitzt nicht…

Open Access, Open Science, Science 2.0: Der heftige Streit könnte mit der gerade anrollenden Industrie 4.0 bald Geschichte sein. Wenn alle Dinge internetal vernetzt sein werden und die digitalen Großmächte (Google, NSA & Co) ungezähmt bleiben, huscht schon der erste Satz in einem Forschungsbericht ins Überwachungssystem. Vermutlich macht sich keine Hochschule heute eine Vorstellung davon, was auf der Cebit 2014 in Hannover sich ankündigte.

Schon um das Jahr 2000 experimentierte das ehemalige Landauer IWW (inzwischen aufgelöst) mit Online-Lehr-Lern-Angeboten. Mittlerweile bieten fast 200 Hochschulen in den USA mit Courser, EDX u.a. Kurse an. In Deutschland arbeiten zwei Dutzend Hochschulen mit Inversity und erfassen mit 28 Kursen fast eine halbe Million Studierende. Was bleibt vom atmosphärischen ›Gesicht‹ einer personalen Lehrveranstaltung?

Streitfall Bologna-Reform: In mehreren Folgen dieser Artikelserie habe ich in den vergangenen Jahren die Schwächen der Bologna-Reform beschrieben und auf die negative Kosten-Nutzen-Bilanz hingewiesen. Dabei durfte ich mich zu den »ewigen Gestrigen« (Annette Schavan) rechnen, über die auch die HRK und zahlreiche Bildungspolitiker herfielen. Inzwischen haben die Fakten auch die HRK und Politiker zu erstaunlichen Eingeständnissen verholfen. Die HRK-Arbeitsgruppe ›Europäische Studienreform‹ verabschiedete am 19. Nov. 2013 »Empfehlungen«, in denen eingestanden wird, daß die von ihr geschürte »Erwartungshaltung« dazu geführt habe, »dass der Bologna-Prozeß von Beginn an (!) überfrachtet wurde«. Von Beginn: die HRK und andere Reformbetreiber haben es also gewußt oder wissen können. Und nun machen sie für »Fehlentwicklungen« die Universitäten verantwortlich und suchen Systemfehler lediglich im Prozeß und in Akzidenzien. Sie beschönigen, wenn sie feststellen, »dass die durch ›Bologna‹ eröffneten Spielräume zu wenig genutzt und oft durch Bürokratie, Detailsteuerung und nicht immer geglückte Umsetzung wieder eingeengt wurden. Dies gilt einerseits für die oft unnötig detaillierten internen und externen Vorgaben für die Gestaltung von Bachelor- und Masterstudiengängen und für die Qualitätssicherung. Es gilt andererseits auch für Fehlentwicklungen auf der operativen Ebene, die innerhalb der Hochschulen selbst verursacht wurden und deshalb auch dort korrigiert werden müssen. Dabei sind grundsätzlich alle Ebenen und Einheiten der Hochschule angesprochen, von der Leitung der Hochschule und der Fakultäten und Fachbereiche bis hin zur Hochschulverwaltung und den einzelnen Hochschullehrerinnen und -lehrern« (Hervorhebung nicht im Original). Da reibe ich mir schon die Augen. »Warum universitäre Großreformen meist scheitern«, ist ein Unterkapitel in ›Die Universität als Lebensform und Reformopfer‹ (2002, S. 6 ff.) überschrieben.

Zerstörung: In ›Forschung & Lehre‹, Heft 5/2014, kann man auf Seite 37 lesen: »Durch die Abschaffung des klassischen einphasigen Studiums, das in Deutschland und anderen kontinentaleuropäischen Ländern mit einem Diplom, Lizenziat, Magister oder einem Staatsexamen endete, sowie durch ein zweiphasiges Bachelor-Master-System nach angloamerikanischem Vorbild wurde der Bildungsauftrag der Universität und damit das kontinentaleuropäische Konzept zerstört.« Professor Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg; zitiert nach ›Die Welt‹ vom 13. April 2014.

Gelehrtenverspottung. Jean Paul schrieb über die deutschen Gelehrten: »sie wollen wie die Metaphysiker alles von vorn an wissen, recht genau, in Großoktav, ohne übertriebene Kürze und mit einigen citatis. Sie versehen ein Epigramm mit einer Vorrede und ein Liebemadrigal mit einem Sachregister« (in: ›22. Hundposttag‹, Sämtliche Werke, Bd. I, München 1060, S. 817).
Und Ludwig Börne setzte noch eins drauf: »Steif wie eine lateinische Deklination schreitet die deutsche Gelehrsamkeit einher und fällt jedesmal zu Boden, sooft sie es wagt, ein Kompliment zu machen« (in: ›Über Theorie und Praxis in der Politik. Das Leben und die Wissenschaft‹ [1808], Sämtliche Schriften, Bd. I, Düsseldorf 1964, S. 113.

Landau, Wintersemester 2002/03

Rezensionen

27. September 2018

Krauss, L.M.: Das größte Abenteuer der Menschheit.

Vom Versuch, das Universum zu entschlüsseln.

Aus dem Englischen von Helmut Reuter, Knaus Verlag, München 2018, 384 Seiten, 26,- Euro, ISBN 978-3-8135-0660-0

Der Autor ist ein beinharter Empirist. Alle nicht skalierbaren Phänomene (Religion, Geist usw.) stellt er unter den Verdacht der Behinderung von Wissenschaft, wobei beim Spießroutenlaufen beide Seiten, die Spießer und die Routenschwinger, eine schlechte Figur machen, wenn man den logischen Argumentationsbau sauber analysiert. »Ohne die Bereitschaft, alle Arten von Glaubensüberzeugungen… aufzugeben wäre dieser Prozess der Aufklärung nicht möglich gewesen«, heißt es gleich zu Anfang. Natürlich haben religiöse, mythische und wissenschaftliche Dogmatisierungen die (Natur-)Wissenschaften oft behindert. Aber mit dem klassischen Fehlschluß ›pars pro toto‹, plädiert er für einen Kehraus von Religion, Geisteswissenschaften usw. »… als Leitfaden zum Verständnis der Welt ist die Bibel erschreckend widersprüchlich« (12) – wie jede Wissenschaft mit ihren Thesen und Antithesen. Davon legt Krauss selber beredtes Zeugnis ab, etwa wenn er seine »tiefe Spiritualität« an die »reale Welt« und an die »Kraft des (naturwissenschaftlichen) Experiments« binden will (12), gleichzeitig aber eingesteht, daß die Wissenschaft die »verborgenen Wirklichkeiten der Natur« noch gar nicht tief genug erkannt hat (16). Entgegen dem Verlauf der Wissenschaftsgeschichte glaubt der Autor an die Letztherrschaft der Empirie und an die totale Aufklärungsfähigkeit mit Hilfe der Ratio. Damit negiert er nicht nur den gesamten Bereich der intuitiven Realitätserfassung, er bekämpft alle Formen nichtempirischer, qualitativer Welterfassung. Ein Großteil kontinentaler Wissenschaftsleistungen stellt er unter Generalverdacht: »Jene verborgene Welt können wir nicht durch intuitives Erfassen verstehen, das allein auf direkter Wahrnehmung beruht« (17). »Ein Universum ohne Zweck« (17), obschon die Naturgesetze selbst sehr zweckorientiert sind? Wie paßt die gesamte Beweisführung zu dem Satz: »Der Triumph der menschlichen Existenz bestand darin, sich von den Ketten zu befreien, die uns von unseren eingeschränkten Sinnen auferlegt sind, und intuitiv erkannt zu haben, dass jenseits unserer Erfahrungswelt eine Wirklichkeit liegt…? (362). Intuitiv erkannt zu haben! Gewiß, die Bibel ist voller Widersprüche (364), aber die Story Krausses auch, weil er Hegel nicht kennt. Dennoch lohnt die Lektüre der 23 Kapitel, weil Krauss seine Sache flott vorträgt.
© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate

26. September 2018

Schulz, Thomas: Zukunftsmedizin.

Wie das Silicon Valley Krankheiten besiegen und unser Leben verlängern will

Deutsche Verlags-Anstalt, München 2018, 288 Seiten, 20,- Euro, ISBN 978-3-421-04811-0

Ein flott geschriebenes Buch des Spiegeljournalisten, der sich unter Medizingrößen gründlich umgesehen hat. Schulz beschreibt die derzeitigen Anfänge der digitalen Medizin, die schon manches erreicht hat und vieles verspricht. Die weltweit vernetzte Forschung verschlingt Milliarden, doch die gewaltigen Summen sind besser investiert als bei mancher modischen Großinvestition, darunter der ins Gigantische anwachsende Luftverkehr, der am Ruin der Erdatmosphäre beteiligt ist. Neben der Einleitung erwarten den Leser neun Kapitel:

  • Digitale Biologie
  • Maschinen-Medizin
  • Angriff der Tech-Riesen
  • Das Zeitalter der Genetik
  • Der Kampf gegen Krebs
  • Synthetische Biologie
  • 200 Jahre leben
  • Der digitale Patient
  • Medizin im Jahr 2030

Ein umfangreiches Register (277-286) erleichtert die Orientierung und die Fundstellensuche. Das Buch ist auch für medizinische Laien gut verständlich geschrieben und für Mediziner schon deshalb, weil der Autor stets eine kritische Distanz wahrt, so besonders im Kapitel ›200 Jahre leben‹, das sich mit immortalistischen Forschungen der ›Silicon Valley-Utopisten‹ auseinandersetzt (2006-230). Der Autor hat sich einer Genanalyse unterworfen, deren Ergebnisse er teilweise mitteilt: »Ich habe deutlich weniger Neanderthaler-Varianten in meinen Genen als fast 90 Prozent der Menschen: Nur vier Prozent meines Genoms lassen sich zu den Neanderthalern zurückverfolgen. Meine Abstammung ist zu 50,2 Prozent deutsch und französisch, zu 11,4 Prozent skandinavisch, zu 4,8 Prozent britisch und zu 14,9 Prozent osteuropäisch. Mein Erbgut enthält keine Varianten für Sichelzellenanämie, Bloom-Syndrom oder autosomale Nierenkrankheit. Gluten und Laktose sollten kein Problem für mein Verdauungssystem sein. Meine Muskeln sind zusammengesetzt wie die eines Top-Athleten. Mein Ohrenwachs ist feucht, und dank meines Erbguts habe ich wenige Haare auf dem Rücken. Am wichtigsten aber: Ich trage keine genetischen Marker, die auf ein erhöhtes Risiko für Parkinson oder Alzheimer hinweisen.«

Daraus erwächst eine Fülle von Problemen, nicht nur der Datenschutz, sondern auch die Analysezuverlässigkeit und die psychischen Folgen (sich selbsterfüllende Erwartungen bei Defekten) auf die der Autor nicht eingeht. Deutschland ist auf die Gesundheitsevolution nicht ausreichend vorbereitet (258 ff.), weder finanziell noch sozialpolitisch. Mitverantwortlich dafür ist nach Schulz »der in Deutschland so ausgeprägte Zukunftspessimismus« (275).

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate

12. August 2018

Wickham, Chris: Das Mittelalter. Europa von 500 bis 1500.

Aus dem Englischen von Susanne Held, Verlag Klett-Cotta, Cotta‘sche Buchhandlung, Stuttgart 2018, 506 Seiten, 35,- Euro, ISBN 978-3-608-96208-6

Der Autor wirft einen neuen Blick auf die Epoche zwischen dem Untergang des weströmischen Reiches und der Reformation. Trotz aller berechtigten Einwände gegen diese Periodisierung plädiert er für die Milleniumseinteilung 500 und 1500, weil die historischen Einschnitte dieses Jahrtausends mehr ins Gewicht fallen als andere Zeiteinteilungen. Das begründet er ausführlich in der langen Einleitung (7 – 38), worin er darüber hinaus sein geschichtstheoretisches Konzept darlegt. Dazu gehört auch die geographische Verortung ›Europa‹. Trotz aller Offenheit gegenüber der östlichen Landmasse und der Verflechtung mit dem Vorderen Orient erscheint Europa als kontinentale Halbinsel mit abgrenzenden Gemeinsamkeiten kultureller, politischer usw. Art. Europa ist ein relativ geschlossener Mentalitätsraum, auch wenn die Bezeichnung nicht immer denkleitend war. Entscheidend sind nach Wickham gemeinsame Strukturmuster, so die radikale Dezentralisierung, die Leitfunktion des Christentums, die technische Kreativität, die politische Evolution in Richtung Urbanisierungen, die Aufklärungsbewegung und reformatorische Bewegungen. Trotz ähnlicher Ansätze in anderen Weltgegenden – diese Strukturmerkmale können als Alleinstellungsmerkmale Europas angesehen werden. Auch im Islam gab es Aufklärungsbewegungen, aber bei weitem nicht so durchschlagend wie nach dem Mittelalter des Westens. Ob Universitäten oder Naturforschung, das europäische Mittelalter bereitete dazu den Boden. Diese Epoche kann nach Wickham nicht mehr als »eine lange, dunkle Phase der Willkürherrschaft« betrachtet werden (11). So eingestimmt, kann man in die Großkapitel einsteigen:

• Rom und seine Nachfolger
• Krise und Wandel im Osten, 500-850/1000
• Das karolingische Experiment, 750‒1000
• Die Expansion des christlichen Europa, 500‒1100
• Die Umformung Europas, 1000‒1150
• Der lange Wirtschaftsaufschwung, 950‒1300
• Die Zwiespältigkeiten politischen Neuaufbaus, 1150‒1300
• 1204: Aus Mangel an Alternativen
• Definitionen einer Gesellschaft: Gender und Gemeinschaft im spätmittelalterlichen Europa
• Geld, Krieg und Tod, 1350‒1500
• Politik wird neu gedacht, 1350‒1500

Professionelle kontinentale Historiker werden andere Akzente setzen und auch Lücken entdecken, die dem englischen Blick mangels kontinentaler Nähe entgehen. Dazu gehört sicherlich die Gründung der Karlsuniversität (1348), deren Folgewirkungen in den deutschsprachigen Gebieten für das Geistesleben von Wickham unterschätzt wird. Doch der überwiegende Vorzug des Buches besteht in der sprachlichen Zugänglichkeit auch für historische Laien. Wer einmal zu lesen angefangen hat, kommt schwer davon los.
© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate

3. Juli 2018

Thaler, R.: Misbehaving. Was uns die Verhaltensökonomik über unsere Entscheidungen verrät

Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt, Siedler, Verlag, München 2018, 510 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 28,- Euro, ISBN 978-3-8275-0120-2

Der Haupttitel verstört (als gäbe es für deutschsprachige Leser keinen eigenen, sprachlich passenden Titel), und der Untertitel erstaunt, wie Thaler seine Verhaltensökonomie anbietet, nämlich in Form einer ausführlichen Lebensreportage von 1970 bis heute. Der werbliche Hinweis ›Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft 2017‹ tut ein Übriges, um Leser für das Buch zu interessieren. Viele Leser werden enttäuscht sein, denn der Stoff wird nicht systematisch präsentiert, sondern biographisch-narrativ. Daraus werden über fünfhundert Seiten, was man in aufbau-logischer Fassung auf weit weniger Seiten hätte darstellen können. Für ökonomische Laien liest sich das Buch wissenschaftsbiographisch, für wissenschaftliche Ökonomen langatmig und historisch. Beispiel: ›Mein Tag bei GM« (166 ff.). Vergeblich sucht man in dem historischen Requisitentext eine verhaltensökonomische Erkenntnis. Die Überschriften der acht Kapitel lauten:

I. Anfänge: 1970 – 1978
II. Mentale Buchführung: 1979-1985
III. Selbstkontrolle: 1975-1988
IV. Meine Zusammenarbeit mit Danny: 2984-1985
V. Kontroversen mit anderen Wirtschaftswissenschaftlern: 1986-1994
VI. Finanzökonomik: 1983-2003
VII. Willkommen in Chicago: 1955- Heute
VIII. Anwendung in der Praxis: 2004 – Heute

Allein schon die aufzuwendende Zeit für die Lektüre der mehr als fünfhundert Seiten ist verhaltensökonomisch kaum zu rechtfertigen. Ein Blick in die umfangreiche ›Bibliografie‹ (471-497) macht deutlich, daß eine angelsächsische Orientierung dominiert (99 Prozent in englischer Sprache, meist auch bei den wenigen nichtangelsächsischen Autoren, z.B. Ernst Fehr & Co.). Die US-Dominanz bestätigt sich im Personenregister: Beim bio-bibliographischen Prozesse wurde der Rest der Welt ausgeblendet. Da fragt man sich schon, welche deutschsprachigen Leser das autistische ›Misbehaving‹ ansprechen soll, Leser, die ihren fachlichen und kulturellen Horizont so mißachtet sehen. Thaler zeigt sich gegenüber Vorhersagen zurecht sehr skeptisch (435). Ökonomisches Verhalten läßt sich weder mechanistisch noch erwartungs- oder gewohnheitssicher berechnen. Die Verhaltensökonomik bewegt sich demnach nur historisch auf einigermaßen sicherem Boden, aber auch dann noch vorausgesetzt, sie präpariert wenigstens die wichtigsten Erklärungsfaktoren heraus. Sie lebt in allen Fällen von der Annahme, den unsichersten Kantonisten, den Menschen, im ökonomischen Spiel entscheidungsrelevant zu durchschauen. Wer der entgegenstehenden Realgeschichte nicht glaubt, sollte in die Literaturgeschichte schauen: Dortige Figuren (als Spielarten der Realität) lassen sich verhaltensökonomisch nur unzureichend deuten.
© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate

27. Juni 2018

Mehring, R.: Martin Heidegger und die »konservative Revolution«

Verlag Karl Alber, Freiburg 2018, 232 Seiten, 32,- Euro, ISBN 978-3-495-48979-6

Die seit Jahren in Gang befindliche Wende von der links-grünen Dominanzideologie zu konservativen Weltanschauungen und der sie begleitenden Praxis spielt sich auf jeweils vier Feldern ab: wissenschaftlich-literarisch (Felder wl1 und wk2), medial (Felder ml3 und mk4), politisch (Felder pl5 und pk6) und gesellschaftlich (Felder gl7 und gk8). Das gesamte Universitätsmilieu z.B. (wl1) ist dominant links-grün geprägt und zeigt sich einer Transformation nach wk2 besonders widerständig, desgleichen der Prozeß von ml3 nach mk4. Die Medien agieren also weitgehend links-grün, ebenso die politischen Parteien, die in Merkel eine verdeckte pk6-Agentin gefunden haben. Die seit Jahrzehnten anhaltende links-grüne Felderdominanz schlägt auch gesellschaftlich durch, wobei die dortige Korrekturbewegung insbesondere durch die Flüchtlingskrise und den hegemonialen EU-Ehrgeiz angetrieben wird. Dieses Ordnungsschema sollte man im Kopf haben, wenn man Mehrings Ausführungen zur ›konservativen Revolution‹ zu lesen beginnt. Seine Analysen beziehen sich auf historische und zeitgeschichtliche Quellen im Feld wk2. Bekanntlich gehen starke Wechselantriebe von den Wissenschaften und der Literatur aus, die in den Jahrzehnten nach 1945 bekanntlich die allgemeine links-grüne Dominanz auf allen acht Feldern befördert und begleitet hat. Seit etwa einem Jahrzehnt verstärkt sich eine Wechselstimmung, wobei die Treibkräfte weniger von den Wissenschaften und der Literatur ausgehen als vielmehr von handfesten gesellschaftlichen Abwendungen. Das erklärt auch den quälenden Übergang: denn die stimmungsprägenden Wechselkräfte sind wissenschaftlich-literarisch und medial verankert. Die konservative Revolution kann nicht auf eine vergleichbar gebündelte Legitimation zurückgreifen wie im links-grünen Überbau. Genau darüber verschafft Mehring ein aufschlußreiches Bild. Die meisten stabilisierenden Hauptkandidaten im konservativen (= k) Spektrum erscheinen allesamt als unsichere Kantonisten: Hölderlin, Nietzsche, Thomas Mann u.a. Die weltanschaulich stabilisierenden Haltepunkte bei Heidegger, Carl Schmitt und Ernst Jünger werden eifrig dekonstruiert (antisemitisch oder utopisch). Heidegger bzw. Marquard statt Habermas ist selbst für liberal-konservative Zeitgenossen noch keine philosophische Alternative, ebensowenig literarisch wie diejenige zwischen Jünger und Grass. Mehring trägt dazu bei: »Heidegger repräsentiert einen Irrweg der deutschen Geisteswissenschaften« (13, gemeint ist wohl ein viel weiteres Spektrum). Nur Friedrich Kittler und einige Nebenfiguren sieht er für geeignet, »das neuhumanistische Erbe der Weimarer Klassik« fortzuführen. Doch der esoterische Status dieser Denker (wer kennt sie schon außerhalb von Intellektuellenzirkeln) fällt wirkungsmäßig weit zurück im Vergleich zu den mächtigen links-grünen Milieuwächtern. Nicht alles, was Mehring schreibt, steht auf festen Füßen. Allzu hurtig werden nationale Interessen als rechtspopulistisch und antiuniversalistisch abgestempelt, wo doch Nationen die unüberwindbaren Ankerzentralen sind, wie die miserable EU-Lage aktuell erneut belegt. Was verbietet die Möglichkeit, anstelle der krisengebeutelten, weil utopieangereicherte EU-Konstruktion einen national verankerten Staatenbund zu installieren, der den Brüsseler und gallischen Zentralismus im Zaum hält? Das wäre wohl der optimale politische und gesellschaftliche Rahmen, in welchem auch ein humanistischer Konservatismus einen Platz hätte. Doch die wissenschaftlichen, literarischen und medialen Zustände bieten dafür (noch) wenig Hoffnung.
© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate

6. Juni 2018

Schaeffler, R.: Phänomenologie der Religion. Grundzüge ihrer Fragestellungen

Verlag Karl Alber, Freiburg und München 2017, 214 Seiten, 34,- Euro, ISBN 978-3-495-48900-0

Die Verwiesenheit der Religion auf die Philosophie ergibt sich aus drei Gründen:

1. Philosophie animiert von außen zur Kritik und intern zur Selbstkritik,
2. die religiöse Immanenz profitiert von philosophischen Begrifflichkeiten und Methoden und
3. aus philosophischen Überlegungen können religiöse Postulate abgeleitet werden, ohne daß die Schwelle zur Transzendenz überschritten wird.
Diese Verwiesenheit ist Teil des Programms der Religionsphilosophie. Schaeffler wählte bereits 1983 den phänomenologischen Ansatz, der sich an die Erscheinungsweisen der Religion (Sprache, Kultus usw.) hält und es vermeidet, »den Selbst-Aussagen der Religion ins Wort zu fallen und ihr mit apriorischen Argumenten vorzuschreiben, wie sie über Gott, die Welt und den Menschen zu reden habe«. Auf diese Weise lasse sich »die für die Religion spezifische Korrelation von Noesis und Noema« beschreiben, »die das Thema einer Phänomenologie der Religion ist« (13 f.). Es geht darum, »die Bedingungen religiösen Sprechens und Handelns« und »Fehlgestalten des Religiösen« freizulegen. Schaeffler entfaltet sein religionsphilosopisches Programm in fünf Kapiteln:

1. Methoden der Religionsphilosophie
2. Die religiöse Sprache ‒ Gestalt, Funktion, Bedeutung
3. Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
4. Religiöse Traditionen und Institutionen – Aufgaben und Kriterien ihrer Beurteilung
5. Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹ und der ›Gott der Bibel‹.

Im Abschlußkapitel wird eine »weiterentwickelte Postulatenlehre und ein programmatischer Dialog zwischen Religion und säkularer Vernunft vorgestellt. Daß dieser dichte und stringent aufgebaute Text nicht nur für Theologen und Philosophen von hohem Interesse ist, zeigt sich besonders in den Teilen 2 und 3 des 5. Kapitels, wo Gottesvorstellungen und das Proprium Christianum (die »Fülle«) erörtert werden. »Die Botschaft von der Torheit des Kreuzes« (198 ff.) spricht jeden Christenmenschen an und ist jedem sprachlich halbwegs gebildeten Gläubigen gut zugänglich. Zentral der kurze Schlußtext über das »Heilswirken Gottes und die Freiheit seiner Geschöpfe« (205 f.). »Gottes ›Torheit‹ und ›Ohnmacht‹ (sind) heilschaffend wirksam« (204), insofern sie auch »das Ergebnis einer antwortenden Selbstgestaltung« verstanden werden. »Aus diesem Eigenstand der vernunftbegabten Kreatur geht eine Freiheit her vor, die freilich einem endlichen Wesen zugehört« und die eine »fehlerhafte, fehlerfähige Freiheit ist« (206). Schaefflers Religionsphilosophie wird den drei eingangs genannten Gründen gerecht und läuft am Schluß auf eine Postulatenlehre hinaus. Eine ihrer Aussagen lautet: »Eine Religion, die ›nichts wäre als Religion‹, wäre auch als Religion defizitär« (210).

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate

6. Juni 2018

Langthaler, R.: Kant über den Glauben und die »Selbsterhaltung der Vernunft«

Sein Weg von der »Kritik« zur »eigentlichen Metaphysik« – und darüber hinaus

Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2018, 398 Seiten, 36,- Euro, ISBN 978-3-495-48985-7

Das hochgelehrte Buch des Philosophieprofessors (an der Katholisch-Theologischen Fakultät Wien) beschreibt die ewig offene Wunde, die sich aus der Spannung zwischen Wissen und Glauben ergibt. Schon antike Denker hielten es für einen wachen Geist nicht hinnehmbar, an Götter zu glauben. Diese Zweifels- bzw. Ablehnungslinie setzte sich bis in die Gegenwart fort, so etwa wenn man Anthropologie an die Stelle der Metaphysik setzt (E. tugendhart, 2007) oder wenn man die »Grundlagen des theologischen Denkens« durch die neuzeitlichen Wissenschaften als »unterminiert« sieht (H. Albert, 2017). Langthaler hält mit Bezug auf Kant akribisch dagegen, obschon der Königsberger Philosoph im »Maßstab der christlichen Dogmatik… kein ›rechtgläubiger Christ‹ war«. Das, was Kant zum Verhältnis von Wissen und Glauben schrieb, hält Langthaler für einen »Meilenstein in der neuzeitlichen Religionsphilosophie«, der nach wie vor höchst aktuell ist. Dazu entfaltet der Autor eine komplexe Beweisstrategie in drei Haupt- und zahlreichen Unterkapiteln, deren Fußnoten- und Verweisdichte dem Leser signalisiert: hier wird ein Denkraum speziell für Philosophen und akademisch tätige Theologe präsentiert. Der Leserkreis bleibt auch deshalb beschränkt, weil der Autor keine Zwischenergebnisse und keinen Gesamtüberblick anbietet. Die Unterkapitel sind derart verschachtelt, daß beim Lesen leicht der Faden reißt. Kant entwickelt eine komplexe Metaphysik, um das Vermögen des »Naturwesens« Mensch, der zu naturübersteigenden Freiheit, Moral usw. fähig ist, nicht »in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie« als Endzweck der Schöpfung stürzen zu lassen. Der Mensch dürfe nicht der »stummen Indifferenz des Universums« preisgegeben werden (203 ff.). Das gebiete die »Vernunftnatur« (nicht also die biblische Offenbarung) und entspreche dem »Bedürfnis der fragenden Vernunft« und die »Aussicht in eine höhere, unveränderlichen Ordnung, in der wir jetzt schon (!) sind«. Er dachte wohl an die Ordnung der Naturgesetze, die den »Machtanspruch der Vernunft« mit der Forderung rechtfertige: »ich will daß ein Gott sei« (206). Dieser »Vernunftglaube« als ein »reflektierender Glaube« ist natürlich vom christlichen Offenbarungsglauben essentiell verschieden, der den Glauben zwar ebenfalls reflektiert, die Vernunft also im Spiel läßt, aber diese nicht, wie bei Kant, zum religiösen Fundament hat. Die Kreuzestheologie z.B. ist kategorial verschieden von Kants »Glauben denken« und von seinem Als-ob-Glauben« aus rationalen und moralischen Gründen, so etwa wenn sich Kants Gott »in der moralisch-praktischen Vernunft und dem kategorischen Imperativ« offenbart (267). Für Kant ist Religion »Erkenntnis (!) unserer Pflichten als göttliche Gebote« (268 f.). Der Philosoph sieht den ganzen Zweck der Metaphysik »im postulatorischen Ermöglichungsgrund« (R. Langthaler) eines »Endzwecks der Schöpfung« (Kant, 270 f.). Der Autor billigt zurecht der von Kant gedachten »Verankerung der Religion in der Moralität« eine Profilierung des Gottesbegriffs zu, der auch beim Offenbarungsglauben als Wissen über das mit Gott Gemeinten voraussetzt (273 f.). Insofern ist Langthalers Kantschrift nicht nur für Philosophen und Theologen aktuell. Wer immer zu diesem gedankendichten Buch greift, muß gelernt haben, dicke Bretter zu bohren.
© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate

25. April 2018

Thanner, V. u.a. (Hrsg.): Die Wirklichkeit des Realismus,

Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2018, 296 Seiten, 49,90 Euro, ISBN 978-3-7705-6269-8

Einen Großteil der neunzehn Beiträge lese ich als Literat und Ökonom mit großer Neugier. Als Literat, der gerade einen neuen Roman in Arbeit und mit den Formen des fiktionalen Realismus ganz praktisch zu tun hat. Als Ökonom, der sich seit Jahrzehnten mit dem Verhältnis zwischen dem ontologischen und dem Modellrealismus auseinander setzen muß. Was bringt die Lektüre dieses Sammelbandes, der aus Sichtweisen verschiedener geisteswissenschaftlicher Sparten (Literatur-, Medien-, Kunst-, Geschichts- und Kulturwissenschaft sowie der Mathematik und Philosophie) geschrieben wurde? Wenn Leser es noch nicht gewußt haben: Jenseits des materiellen Realismus existieren mehrere andere Formen des Realen, so in mathematischen Zahlenwerken (277 ff,.), in Geschichtsrekonstruktionen (27 ff.), in Filmen und Romanen (mehrere Beiträge), in Mikrologien (153 ff.), in Grotesken und Politik (213). Im Kern geht es (1) um das Verhältnis zwischen dem, was als empirische Wirklichkeit erscheint einschließlich seiner gestaltapriorischen Wahrnehmung sowie (2) um die Infragestellung dieses Verhältnisses generell und spezifisch durch Wahrnehmungsstörungen infolge systematischer und gewollter Unschärfen. Im letzten Fall kann der Standpunkt »konstitutive Nicht-Feststellbarkeit des Realen (A. Koschorke) eingenommen werden, woraus sich unendlich viele fiktionale Freiheitsgrade ergeben, Damit öffnet sich das Exerzierfeld des Konstruktivismus, der sich hier nicht auf die Quantenpragmatik beruft (dort herrschen unendliche Freiheitsgrade zwischen Wahrscheinlichkeiten und Ontologie), sondern auf die ästhetische Phantasie oder auf regelgebundene Entwürfe (wie in der Mathematik oder bei Superrechnern). Weil man dabei leicht die Schwere der gewordenen Realien aus dem Auge verliert (G. Böhme), hat sich zum Widerpart der Neue Realismus installiert (Markus Gabriel), auf den der kluge Beitrag von Joseph Vogl leider nicht eingeht (269 ff.). Dieser Autor macht spekulativ deutlich, wohin es führt, wenn sozial- und naturwissenschaftliche Perspektiven geisteswissenschaftlich übergangen werden.

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate

8. April 2018

Bauer, M. (Redaktion): Mittelweg 36

Heft 4-5 (Oktober 2017), Schwerpunktthema: Antiakademismus, mit mehreren Abbildungen, Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 189 Seiten, 18,- Euro, ISSN 978-3-86854-743-0

Nach dem Vorwort von Hanna Engelmeier und Philipp Felsch sind die zehn Beiträge »weder (als) Antiintellektualismus noch (als) aggressive Bildungsferne« zu lesen, sondern als »wissenschaftliche Projekte, intellektuelle Ambitionen und Profile, die ihre Profile über die Negation der real existierenden Universitäten gewonnen haben« (5). Die These lautet: Wissensproduktion und Widerstand gehören dialektisch zusammen. Daraus dürfe nicht allein Negation abgeleitet werden, sondern auch Reformbewegungen (7). Unter den vier Begründungstypen wäre die Selbstzerstörungswille mangels Widerstand gegen die Bildungspolitik (s. Bologna-Reform) hinzuzufügen. Antiakademische Muster hätten Familienähnlichkeit und Stilwille, Subjektivität und politische sowie existenzielle Dringlichkeit zu Merkmalen, »die sich in der Distanz zum Akademischen« manifestieren (10). Nicht erst den 68er Protestlern seien die Lehrenden als geborene Antiakademiker vorgekommen, deren »intellektuellen Fähigkeiten… sie bestenfalls zu mittelmäßigen wissenschaftlichen Leistungen« befähigt hätten. Engelmeier und Flesch hegen mit »von uns gewählt(en) Optik« die Hoffnung, »die Entstehung neuer Wissensformen zu erfassen« (11), wobei »Negation… als treibende Kraft« ist (11): Da wird nicht nur weit ausgeholt, sondern auch in absolute (also reine) Anfänge abgehoben (»Grundsätzliche Frage«, Krise der Legitimität von Gerichten usw.). Zum Schluß fragen sich die beiden Autoren allerdings, ob Antiakademismus nicht ein allzu »wohlfeile Position darstellt« (13). Es ist ihnen »schmerzlich bewußt…, wie fragil Institutionen sind, von deren Erhalt unsere Lebensbedingungen … abhängen.« Als ein seit bald fünfzig Jahren lehr- und forschungsaktiver Universitätslehrer wundere ich mich immer wieder über überschießende Sehnsüchte und Generalisierungen. Widerstand war und ist gewiß meine zweite Natur auch an der Universität (vgl. die Schrift ›Mein sonderbares Leben‹, Walthari-Verlag, 2018), doch das Revolutionäre sollte kein ideologisches Gewand tragen, wenn es nicht zur (auch fundamentalistischen und gewaltbereiten) Auskehr kommen soll (wie bei der Bologna-Reform und den Achtundsechzigern). Unter diesem Motto lese ich die weiteren Beiträge in diesem Sammelband. Dabei geht es u.a. um Streithähne, Junghegelianer und Pseudowissenschaftler. Eva Geulen liefert eine kräftige Gegenstimme. Ich habe die ersten Jahre nach 1968 als Professor noch erlebt, und wundere mich über manche Aussagen im Interview mit W. Kraushans.

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate

18. März 2018

Körtner, U. H. J.: Für die Vernunft.

Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche

Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2017, 172 Seiten, 15,- Euro, ISBN 978-3-374-04998-1

Als Bundeskanzlerin Merkel im Herbst 2015 angesichts der illegalen Masseneinwanderung nach Deutschland die hochemotionale Willkommenskultur ausrief, hielt ihr der damalige Bundespräsident Gauck keineswegs schlimmen Rechtsbruch vor, sondern sprach von einem Akt der Menschlichkeit. Moral also vor Recht. Als der Flughafen Hahn aufgrund der Regierungsnaivität in Mainz in eine Investorfalle aus China geriet, zeigt sich die SPD-Ministerpräsidentin Dreyer zutiefst betroffen, statt die Verantwortung zu übernehmen. Gefühl statt Vernunft, gespielte Moral statt Recht. Solche raffinierten Ablenkungsmuster findet man täglich in der Politik und in kirchlichen Kreisen. Der Theologe Körtner (Wien) entfaltet die Problematik systematisch und anhand aktueller Beispiele. Er hält es gegen Küng für »eine trügerische Hoffnung«, die »divergierenden Ethiken in ein universales Weltethos« aufheben zu können (29). Moral, Gefühle und Emotionen müssen vor dem Tribunal der Vernunft bestehen, ein Test, den Merkel, Gauck & Co. bei der Flüchtlingskrise 2015 nicht bestanden haben. Körtner zitiert Jüngels provokanten Satz: »Werteethik und christlicher Ethos sind einander feind« (34). Er warnt vor der »Gefahr einer Tyrannei der Werte«. Jedes »Wertedenken (sei) seiner Tendenz nach eminent aggressiv« (35). Mit Luhmann gesprochen: »Aufgabe der Ethik als kritische Theorie der Moral ist es, ›vor Moral zu warnen›.« (37).

Das Taschenbuch sollten Politiker, Unternehmer und Kirchenleute ständig in der Jackentasche bereithalten, auch wenn Körtner strenge Begriffsdifferenzierungen vornimmt und zum Konstruktivismus neigt (34, 55 et passim). , weshalb es gleichgültig sei, ob eine Demokratie «homogen oder pluralistisch, mono- oder multikulturell entworfen« sei (55). In diese Falle ist Böckenförde mit seinem berühmten Zitat nicht geraten, wenn er als Prämisse »von innen her… (eine) Homogenität der Gesellschaft« voraussetzt. Der Neue Realismus (vgl. Markus Gabriel) erinnert an die verlorene ontologische Basis, die man bei Körtner auch dort vermißt, wo er auf den Islam eingeht (u.a. 62). Den Kirchenleuten wird es schwer aufstoßen zu erfahren, daß jede Hypermoral zur Reduktion und Funktionalisierung der essentiellen (!) christlichen Botschaft führt.

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate

18. März 2018

Tegmark, M.: Leben 3.0 – Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz.

Aus dem Amerikanischen von Hubert Mania, Ullstein Verlag, Berlin 2017, 3. Auflage, 528 Seiten, Hardcover, gebunden, 26,- Euro, ISBN 978-3-550-08145-3

Der Autor ist Professor für Physik am MIT und wird, blickt man auf das Echo nach der 1. Und 2. Auflage, als exzellenter Kenner der Auswirkungen der Künstlichen Intelligenz (KI) gepriesen. Das Buch besteht aus acht Kapiteln und einem je ausführlichen Vor- und Nachwort. Es ist auch für KI-Laien geschrieben, was allein schon daran erkennbar ist, daß nach jedem Kapitel ein Fazit gezogen wird. Tegmark geht in mehrfacher Hinsicht ins Grundsätzliche und äußert sich über künftige Zustände einer überschießenden KI (infolge selbstlernender Systeme), über einen möglichen Kollaps und über die egalitäre Utopie, in der eine Superintelligenz ein friedliches Nebeneinander von kybernetischen Organismen und Menschen beschrieben wird. Zentral geht es um die Formen des Bewußtseins, das sich beim Menschen auf biologischer Basis entwickelt hat und das nun mit Hilfe des Menschen auf materielle Systeme übertragen werden kann, die den Homo cupidus zu versklaven drohen. Anthropologisch drängt sich die Frage auf, wie sich das traditionelle Menschenbild (der Mensch als ›technisches‹ Mängelwesen) und kybernetischer Systemüberlegenheit (Superrechner erweisen sich dem Menschen ›technisch‹ weit überlegen) einpendelt. Die nicht-technischen Qualitäten (Gewissen, Moral, Gefühle usw.) des Althomo (vgl. die Figur in meinem Roman ›Stimmen im Labyrinth‹, Walthari-Verlag, Münchweiler 2010) kommen unter die Räder der Technoveros (KI-Spezies). Tegmark geht viele denkbare Folgen und Utopien durch und bespricht sie kritisch, freilich nicht unter dem Aspekt der Religions- und Kulturphilosophie, die doch zu dem überschäumenden KI-Szenario vieles zu sagen haben. Das Defizit zeigt sich eindrucksvoll an Aussagen über die Religion und die Freiheit. Der Autor denkt sich Szenen mit einer »Schutzgott-KI« aus (265 ff.), die doch recht oberflächlich ausfallen (etwa beim Theodizee-Problem), weil der ganze spirituelle und mythologische Tiefenraum unberücksichtigt bleibt. Bei der KI-Dynamik ist es wahrscheinlich, daß die technisch nur unvollkommen faßbaren Gebiete (vgl. 400 ff.) links liegenbleiben, da die halbgebildete Menschheit der Faszination des Techno-Zaubers noch mehr unterliegt als heute. Das wird sich rächen. Tegmark sollte man lesen, um nicht allzu überrascht zu sein.

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate

18. März 2018

Mayer-Schönberger, V. und Thomas Ramge: Das Digital.

Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus

Econ Verlag, Berlin 2017, 3. Auflage, 304 Seiten, Hardcover, gebunden, 25,- Euro,
ISBN 978-3-430-20233-6

Nach der bekannten angelsächsischen Erzählart wird der Leser mit Beispielen in die Materie der zehn Kapitel eingeführt. Die Kapitelüberschriften lauten und sagen schon damit einiges über die Reichweite aus:

1. Datenkapitalismus
2. Koordination
3. Märkte
4. Datenreichtum
5. Unternehmen
6. Automatisierung
7. Geld
8. Feedback
9. Arbeit
10. Freiheit.

Mayer-Schönberger hat in Oxford einen Lehrstuhl für Internet Governance inne, der Journalist Ramge schreibt u.a. für den Economist. Das Leitbeispiel in Kapitel 4 veranschaulicht den Stil und die neue Marktidee. Berichtet wird über die Leistungen der Künstlichen Intelligenz in Gestalt eines Rechners namens Libratus. Der Supercomputer zeigt sich beim raffinierten Pokerspiel seinen menschlichen Partnern überlegen. »Seit 1996 haben Menschen keine Chance mehr gegen Schachcomputer« (74). Aus den selbstgelernten strategischen Eigenschaften ziehen die Verfasser Konsequenzen für das Marktgeschehen (77 ff.). Traditionelle Märkte leiden unter Informationsdefiziten und orientieren sich zu sehr am Preis. Dem können elektronische Datenverarbeitungen abhelfen, indem sie Profile erstellen über Begleitfaktoren, die in die Entscheidungen eingehen. Beim Hemdenkauf: »Größe, Stoff, Farbe, Paßform, Ärmellänge, Kragenform und Marke« (80). Der Online-Händler bestückt seine Produkte mit diesen Zusatzdaten, und Käufer können ihr Wunschpaket ins Netz setzen und nach Deckungsgleichheit suchen. Entscheidend ist die Kategorisierbarkeit der Produkteigenschaften. Bei Büchern, Sportartikeln, Haushaltsgeräten u.a. sind solche Muster einfach, bei Wohnungseinrichtungen, Partnerwünschen u.ä. dagegen nicht. Nicht der Datenreichtum erschweren die Bildung des Algorithmus, sondern offene Präferenzen. »Amazon sucht in Daten nach Mustern, die unsere Vorliebe verraten«, wir müssen gar nicht erst befragt werden (89). Gewiß mögen auch Datenmuster gut ermittelbar sein, sie erfassen doch nur unvollkommen die Denk- und Gefühlsmuster, die permanent wechseln. Mit den technischen Zugriffen gehen die kulturell so wichtigen Ambivalenzen und Existenzialen verloren. Dazu lese man das Kapitel ›Freiheit‹. Bildung z.B. ist mehr als Lernoptimierung.

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate

VORLESUNGEN

im Rahmen des Studiums generale

Vorlesungen von 2004 bis 2018

Prof. em. Dr. E. Dauenhauer †

Sommersemester 2004
Wirtschaftskategorien und Wirtschaftsdidaktik

Sommersemester 2006
Virtuelle Oikos-Strategien in Zeiten der Lehr-Lern-Krise

Sommersemester 2007
Bürgerlichkeit in Zeiten der globalisierenden Ökonomie

Sommersemester 2008
Ökonomische Denk- und Handlungsmuster in Theologie und Kirche.
Entfremdet sich die Religion im Oikos von ihrem Auftrag?

Sommersemester 2009
Wirtschaft und Literatur – Ästhetische Oikos-Provokationen

Sommersemester 2010
Universalistische Labyrinthe inmitten des ökonomischen Universalismus

Sommersemester 2011
Grenzprobleme und Grenzüberschreitungen des ökonomischen Denkens und Handelns

Sommersemester 2012
Das Ökonomische der Ökonomie zwischen stabiler Ordnung und aktueller Verwilderung

Sommersemester 2013
Ökonomiekonzepte im Spiegel fundamentalkritischer Analysen

Sommersemester 2014
Oikodizee. Über den ethischen Umgang mit ökonomischen Paradoxien

Sommersemester 2015
Alternative Ökonomik als System- und Lebensstilkritik

Sommersemester 2016
Das Unbewußte als Agens ökonomischer Prozess

Sommersemester 2017
(DE-)Konstruktion ökonomischer Mythen im Kontext des Neuen Realismus

Sommersemester 2018
Epoche der Digitalisierung – Kulturökonomische Auswirkungen

Letzte Vorlesung von Prof. em. Dr. Erich Dauenhauer:

Epoche der Digitalisierung – kulturökonomische Auswirkungen

Thema am 5. Juli 2018: Anthropologische Auswirkungen der Digitalisierung

Literaturhinweise

Dauenhauer, E.: Literatur in Digitalistan, Walthari-Heft 65/2018
Dauenhauer, E.: Kultur- und Kunstökonomie, Teil I und II, Landau 1992/93
Dauenhauer, E.: Kulturökonomie, Artikel in: Lexikon der ökonomischen Bildung, München 2008, 7. Auflage, Seite 354 ff.
Glunk, Fr., R.: Schattenmächte. Wie transnationale Netzwerke die Regeln unserer Welt bestimmen, München 2017
Groh, M.: Realität als Relation, Münster 2015
Jaeger, Fr. und Liebsch, B. (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 1 – 3, Stuttgart/Weimar 2004 ff.
Konersmann, R. (Hrsg.): Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart/Weimar 2012
Mayer-Schönberger, V. und Ramge, Th.: Das Digital, München 2017
Riesenwieck, M.: Digitale Drecksarbeit, München 2017
Sprenger, R. K.: Radikal digital, München 2018
Tegmark, M.: Leben 3.0 – Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz, Berlin 2017

Landau / Münchweiler, 1. Juli 2018

Evaluation der Veranstaltungen von Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer im Wintersemester 2001/2002

Evaluation der Veranstaltung Personalwirtschaftslehre durch Studierende anhand eines Fragebogens, der von den Studierenden selber ausgewertet wurde. Anonymität war gewährleistet.
Die Ziffern bedeuten: 1 = stimmt/sehr gut; … 5 = stimmt nicht/mangelhaft

Die Veranstaltung…
… war von Stoffumfang und Schwierigkeit her zu bewältigen: 1: 57,69 %; 2: 42,31 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war gut strukturiert (klarer Aufbau, roter Faden, etc): 1: 40,74 %; 2: 55,56 %; 3: 3,70 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war gut dokumentiert (Lehrbücher u./o. andere Materialien): 1: 62,96 %; 2: 37,04 %; 3: 0 %; 4: 0%; 5: 0 %
… hat mir neue Kenntnisse und/oder Fähigkeiten vermittelt: 1: 37,04 %; 2: 55,56 %; 3: 7,41 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war für mich interessant und anregend: 1: 59,26 %; 2: 25,93 %; 3:14,81 %; 4: 0 %; 5: 0 %
Wie gut fanden Sie die Veranstaltung insgesamt? 1: 59,26 %; 2: 25,93 %; 3: 14,81 %; 4: 0 %; 5: 0 %

Der Lehrende…
… war gut vorbereitet: 1: 85,19 %; 2: 14,81 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… hat gut erklärt, konnte Schwieriges verständlich machen: 1: 66,67 %; 2: 33,33 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… ging angemessen auf Fragen ein: 1: 70,37 %; 2: 29,63 %; 3: 0,00 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… hat (soweit sinnvoll) aktuelle Beispiele benutzt: 1: 85,19 %; 2: 14,81 %; 3: 0,00 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war gut zu erreichen: 1: 43,48 %; 2: 47,83 %; 3: 8,70 %; 4: 0 %; 5: 0 %
Wie gut fanden Sie den Lehrenden insgesamt? 1: 65,38 %; 2: 34,62 %; 3: 0,00 %; 4: 0 %; 5: 0 %

Evaluation der Veranstaltung Oberseminar „Ironische Ökonomie“durch Studierende anhand eines Fragebogens, der von den Studierenden selber ausgewertet wurde. Anonymität war gewährleistet.
Die Ziffern bedeuten: 1 = stimmt/sehr gut; … 5 = stimmt nicht/mangelhaft
Die Veranstaltung…
… war von Stoffumfang und Schwierigkeit her zu bewältigen: 1: 11,11 %; 2: 66,67 %; 3: 22,22 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war gut strukturiert (klarer Aufbau, roter Faden, etc): 1: 25,0%; 2: 50,0 %; 3: 25,0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war gut dokumentiert (Lehrbücher u./o. andere Materialien): 1: 44,44 %; 2: 33,33 %; 3: 22,22 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… hat mir neue Kenntnisse und/oder Fähigkeiten vermittelt: 1: 33,33 %; 2: 66,67 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war für mich interessant und anregend: 1: 55,56 %; 2: 44,44 %; 3: 0%; 4: 0 %; 5: 0 %
Wie gut fanden Sie die Veranstaltung insgesamt? 1: 55,56 %; 2: 44,44 %; 3: 0%; 4: 0 %; 5: 0 %

Der Lehrende…
… war gut vorbereitet: 1: 100,0 %; 2: 0%; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… hat gut erklärt, konnte Schwieriges verständlich machen: 1: 75,0 %; 2: 25,0 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… ging angemessen auf Fragen ein: 1: 62,50 %; 2: 37,50 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… hat (soweit sinnvoll) aktuelle Beispiele benutzt: 1: 87,50 %; 2: 12,50 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war gut zu erreichen: 1: 50,0 %; 2: 37,50 %; 3: 12,50 %; 4: 0 %; 5: 0 %
Wie gut fanden Sie den Lehrenden insgesamt? 1: 75,50 %; 2: 25,0 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %

Evaluation der Veranstaltung Volkswirtschaftslehre II durch Studierende anhand eines Fragebogens, der von den Studierenden selber ausgewertet wurde. Anonymität war gewährleistet.
Die Ziffern bedeuten: 1 = stimmt/sehr gut; … 5 = stimmt nicht/mangelhaft
Die Veranstaltung…
… war von Stoffumfang und Schwierigkeit her zu bewältigen: 1: 33,33 %; 2: 50,0 %; 3: 16,67 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war gut strukturiert (klarer Aufbau, roter Faden, etc): 1: 48,0 %; 2: 52,0 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war gut dokumentiert (Lehrbücher u./o. andere Materialien): 1: 67,29 %; 2: 32,14 %; 3: 3,57 %; 4: 0%; 5: 0 %
… hat mir neue Kenntnisse und/oder Fähigkeiten vermittelt: 1: 40,0 %; 2: 52,0 %; 3: 8,0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war für mich interessant und anregend: 1: 40,0 %; 2: 44,0 %; 3: 8,0 %; 4: 8,0 %; 5: 0 %
Wie gut fanden Sie die Veranstaltung insgesamt? 1: 40,0 %; 2: 44,0 %; 3: 8,0 %; 4: 0 %; 5: 0 %

Der Lehrende…
… war gut vorbereitet: 1: 79,17 %; 2: 20,83 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… hat gut erklärt, konnte Schwieriges verständlich machen: 1: 80,0 %; 2: 20,0 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… ging angemessen auf Fragen ein: 1: 76,0 %; 2: 24,0 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… hat (soweit sinnvoll) aktuelle Beispiele benutzt: 1: 84,0 %; 2: 16,0 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war gut zu erreichen: 1: 61,90 %; 2: 38,10 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
Wie gut fanden Sie den Lehrenden insgesamt? 1: 75,0 %; 2: 25,0 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %

Evaluation der Veranstaltung Grundsachverhalte der Wirtschaftspolitik durch Studierende anhand eines Fragebogens, der von den Studierenden selber ausgewertet wurde. Anonymität war gewährleistet.
Die Ziffern bedeuten: 1 = stimmt/sehr gut; … 5 = stimmt nicht/mangelhaft
Die Veranstaltung…
… war von Stoffumfang und Schwierigkeit her zu bewältigen: 1: 35,29 %; 2: 52,94 %; 3: 11,74 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war gut strukturiert (klarer Aufbau, roter Faden, etc): 1: 47,06 %; 2: 47,06 %; 3: 5,88 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war gut dokumentiert (Lehrbücher u./o. andere Materialien): 1: 58,82 %; 2: 41,18 %; 3: 0 %; 4: 0%; 5: 0 %
… hat mir neue Kenntnisse und/oder Fähigkeiten vermittelt: 1: 47,06 %; 2: 47,06 %; 3: 5,88 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war für mich interessant und anregend: 1: 47,06 %; 2: 47,06 %; 3: 5,88 %; 4: 0 %; 5: 0 %
Wie gut fanden Sie die Veranstaltung insgesamt?: 1: 47,06 %; 2: 47,06 %; 3: 5,88 %; 4: 0 %; 5: 0 %

Der Lehrende…
… war gut vorbereitet: 1: 68,75 %; 2: 31,25 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… hat gut erklärt, konnte Schwieriges verständlich machen: 1: 82,35 %; 2: 17,65 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… ging angemessen auf Fragen ein: 1: 70,59 %; 2: 29,41 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… hat (soweit sinnvoll) aktuelle Beispiele benutzt: 1: 88,24 %; 2: 11,76 %; 3: 0 %; 4: 0 %; 5: 0 %
… war gut zu erreichen: 1: 80,0 %; 2: 20,0 %; 3: %; 4: 0 %; 5: 0 %
Wie gut fanden Sie den Lehrenden insgesamt?: 1: 88,24 %; 2: 11,76 %; 3: 0,00 %; 4: 0 %; 5: 0 %